Zindy und der Martinstag
Um stundenlang im Garten abzuhängen war es inzwischen längst zu kalt geworden. So hatte Zindy eine ganze Weile aus dem Fenster gesehen, doch abgesehen vom großen Müllauto war auf der Straße kaum was los. Alle Knirpse waren ausgeflogen und Gerome hielt einen Spätherbstvormittagsschlaf. Nur sie war wieder wach und zu einem Abenteuer bereit. Dummerweise war gerade keines in Aussicht.
Zumindest bis Niklas von der Schule nach Hause kam.
Er ließ die Haustür ziemlich laut zuknallen und daran, dass zwei verschiedene Stimmen zu hören waren, wusste Zindy, dass er nicht alleine war. Niklas hatte einen Kumpel und Mitschüler dabei. Beide waren schlecht gelaunt und warum war nicht zu überhören. Zindy, die bereits auf dem Weg nach unten war, verharrte vorsichtshalber auf dem Treppenabsatz im ersten Stock.
„Eine Stunde Nachsitzen hätte auch gereicht“, maulte Niklas. „Nur weil er niemand für seine dämliche Bastelstunde finden konnte, können wir jetzt herhalten.“
Sein Kumpel pflichtete ihm bei. „Den Skaterpark können wir uns jedenfalls für heute knicken. Oh Mann. Warum musste sich Herr Müller auch genau in dem Augenblick zu uns umdrehen?“
Aus ihrem weiteren Gejammer erfuhr der kleine Stoff-Orang-Utan den Rest der Geschichte. Offenbar hatten sie heute im Unterricht anstatt aufzupassen lieber mit Papierkügelchen geschossen und waren dabei erwischt worden. Herr Müller hatte gefunden, dass so ein Verhalten eher zu Fünftklässlern passte und deshalb durften die beiden jetzt nicht nur bei der Fertigstellung ihrer Martinslaternen helfen, sondern die jüngeren Schüler auch beim anschließenden Umzug als Aufsicht begleiten.
Im Vergleich zu den Jungs fand Zindy die Angelegenheit total aufregend. Vom Martinstag hatte sie schon im Kinderfernsehen gehört und gesehen. Dieser Martin war ein netter Soldat gewesen, der einem Bettler die Hälfte seines Mantels geschenkt hatte, damit der nicht frieren musste. Zur Belohnung bekam er jetzt jedes Jahr einen Laternenumzug.
Zindy hatte darauf gehofft, dass heute Abend vielleicht ein paar Kinder am Haus vorbeilaufen würden. Aber das war ja noch viel besser. Dank der Jungs konnte sie jetzt nicht nur beim Basteln zusehen, sondern sogar noch am Umzug selbst teilnehmen. War das nicht einfach klasse?
Niklas und sein Kumpel hatten noch etwas Zeit und genehmigten sich deshalb erst einmal einen Mittagssnack, wobei auch für Zindy etwas abfiel. Danach zockten die Jungs noch ein Computerspiel. Zindy nutzte ihre Abgelenktheit um sich unter einem bunten Halstuch mit Skatermotiven in Niklas Rucksack zu verstecken und dort noch ein kurzes Schläfchen zu halten. Denn wenn der Spaß erst einmal losging, würde dafür keine Zeit mehr bleiben.
Zwei Stunden später ging es dann endlich los und zweieinhalb Stunden später standen die Rucksäcke von Niklas und seinem Kumpel auf einem der oberen Bretter in einem offenen Regal im Klassenzimmer der 5b neben einer Schachtel mit bunter Tafelkreide. Das kleine Stoff-Orang-Utan-Mädchen hatte den Reißverschluss langsam aufgezogen und das Tuch zur Hälfte herausgeschoben. Wie durch einen Schleier konnte sie so alles beobachten, was in dem Raum vor sich ging.
Die halbfertigen Laternen standen schon auf den Tischen vor den Fünftklässlern. Herr Müller erklärte gerade den nächsten Schritt und sobald er damit fertig war riefen auch schon die ersten Schüler – meist Mädchen – um Hilfe von Niklas und seinem Kumpel. Wirklich benötigten sie sie nicht. Doch die beiden älteren Schüler waren ja so süß und nicht so blöde wie die eigenen Klassenkameraden. So wurden die beiden fortwährend in Anspruch genommen.
Grinsend sah Zindy zu wie die kleinen Mädchen sich fast darum stritten, wer den putzigen Blonden und wer den knuffigen Dunkelhaarigen als Nächste haben durfte um ihn dann minutenlang anzuhimmeln. Sie erfuhren die Vornamen der Mädchen, ihre Hobbies, ihre Lieblingssportarten und noch vieles mehr. Als eine Niklas sogar heimlich ein paar Einhornsticker mit ihrer Handynummer zusteckte, viel Zindy vor Lachen fast aus dem Regal.
Nicht besser wurde es als die Laternen endlich fertig waren.
Die Klasse machte sich für den jetzt folgenden Martinsumzug bereit. Das hieß den Platz aufräumen, Laterne nochmals checken und sich dann warm einzupacken ehe es nach draußen gehen würde.
Wie jeder weiß, ist es üblich bei diesem Umzug zu singen. Den Fünftklässlerin war das sehr wohl bewusst. Aber Niklas und sein Kumpel hatten es völlig vergessen. Während alle um sie herum fröhlich die Lieder schmetterten, starrten sie nur genervt auf die nächste Wand. Das blieb ihren neuen Freundinnen natürlich nicht verborgen.
Kein Verweis auf den Stimmbruch oder die Behauptung, dass sie den Text nicht mehr wussten, nutzte ihnen etwas. Das erstere nahm ihnen Herr Müller nicht ab und für das zweite reichten ihnen gleich fünf Schülerinnen und drei Schüler ein Textblatt. So blieb ihnen nichts anderes übrig als brav mitzusingen.
Das Hauptrepertoire an Lidern bestand wohl aus „Ich geh mit meiner Laterne“ und „Laterne, Laterne“, denn diese beiden Lieder sang die Gruppe den gesamten Umzug lang immer wieder. Über eine Stunde dauerte der, was dazu führte, dass auch Zindy bald die wichtigsten Textzeilen beherrschte und sie aus Niklas Rucksack mitsummte.
Niklas und sein Kumpel waren weiter hoch im Kurs. Der kleine Stoff-Orang-Utan versang sich einmal gewaltig als sie bemerkte wie das Mädchen mit den Einhornstickern Niklas Hand ergriff und den anderen mit einem unmissverständlichen Blick zu verstehen gab „Der ist meiner!“.
Zindy fand die leuchtenden Laternen wunderschön. Sie war fast enttäuscht, dass der Umzug so schnell vorbei war. Dass es nach einem kleinen Theaterstück, das nochmals das Wirken des Heiligen Martin zeigte, heißen Tee und Kekse gab, versöhnte sie dann aber wieder. Vor allem da Niklas von seiner Einhornstickerfreundin noch eine Extratüte mit Keksen „nur für ihn“ zugesteckt bekam, die der auch mit einem müden Lächeln in seinen Rucksack direkt neben Zindys Nase verstaute.
Die hatte dann den ganzen Heimweg über Zeit sich für einen der Kekse zu entscheiden, den sie dann zu Hause brav und ohne Bissspuren mit nach oben nahm.
Kisha war praktischerweise mit Nina ins Kino gegangen. So konnte das kleine Stoff-Orang-Utan-Mädchen mit Hilfe von Kishas Taschenlampe für Gerome einen Martinsumzug samt Gesang nachstellen. Ihr fielen zwar nur noch die Textzeilen „Lahaterne, Lahaterne, Sonne, Mond und Stähärne“ und „Rabimmel, rabammel, rabumm“ ein, doch das schwarze Stoffschaf fand es einfach nur klasse und wippte mit.
Danach teilte sie mit Gerome nicht nur ihr Sofakissen und ihre kleine Kuscheldecke, sondern auch den Keks.
„Jetzt bist du wie dieser Martin“, meinte der zwischen zwei Bissen.
Und damit – fand zumindest Zindy – hatte er voll und ganz Recht.
Lies gleich weiter: "Zindy und die Weihnachtskrippe"