Als sie noch kleiner war, war Kisha oft mit ihrer Großmutter im Zoo gewesen. Das hatte in den letzten Jahren jedoch ziemlich nachgelassen. Streng genommen wusste Kisha nicht einmal mehr, wann sie zuletzt in einem Tierpark gewesen war. Oma Charlottes Freundinnen hatten für das heutige Kaffeekränzchen eine nach der anderen alle abgesagt und da sie frei hatte, hatte Kisha spontan beschlossen ihre Großmutter zu einem Zoobesuch zu überreden. Zwei neue Elefantenbabies und die leckeren Kuchen im Zoocafe waren als Argument gar nicht nötig um die alte Dame zu überzeugen. Schon die Aussicht auf einen schönen Nachmittag mit ihrer Enkelin hätte Oma Charlotte genügt. Als der kleine Stoff-Orang-Utan davon hörte, setzte sich Zindy demonstrativ auf Kishas kleinen Rucksack. Zoo bedeutete Tiere. Klar, sie kannte schon ganz schön viele aus der Stofftierfabrik, aber in echt hatte sie neben den Tieren auf einem Bauernhof bisher nur Hunde, Katzen, Schmetterlinge, Bienen und Vögel gesehen. „Du möchtest auch mit?“ lächelte Kisha und steckte Zindy in das Netz an der Seite ihres Rucksacks, das eigentlich für Getränke vorgesehen war. „Aber mach keinen Unfug!“ ermahnte sie sie. Darüber, dass sie gerade mit einem Stoffaffen sprach, wunderte sie sich schon lange nicht mehr. Und warum auch nicht? Oma Charlotte tat es schließlich auch mit ihrem Bruno. Der Tag war sonnig, aber nicht zu heiß. Nachdem Oma Charlotte und Kisha den Eingang passiert hatten, schlenderten sie immer dem Rundweg folgend gemütlich von Gehege zu Gehege. Zindy hatte eigentlich vorgehabt gleich aus dem Seitennetz zu flüchten und todesmutig durch alle Käfige und Gehege zu schwingen, zu hüpfen oder zu tanzen. Dann war sie aber schon von den ersten Tieren so beeindruckt, dass sie sich nur ehrfürchtig umsah. Nur einmal winkte sie heimlich einem Stoffeinhorn in einem Kinderwagen zu, aber das tat so als ob es das nicht bemerkte und rümpfte nur die Nase. Typisch Einhorn, dachte Zindy. Die hatten sich schon in der Stofftierfabrik alle für etwas Besseres gehalten. Dabei waren sie noch nicht einmal reale Tiere. Damit war Zindy mit dem Teil fertig und konzentrierte sich nur noch auf die echten Tiere und von denen gab es hier reichlich zu sehen. Gut, Vögel und Insekten waren jetzt nicht so ganz ihr Ding. Vögel waren wenigstens noch schön bunt und manche konnten sogar sprechen, aber dieses Krabbelgetier raubte ihr schon zu Hause den letzten Nerv, wenn zum Beispiel eine Fliege meinte, sich ihr Ohr näher ansehen zu müssen. Die Pinguine und Seelöwen wurden gerade gefüttert und beim Kamelreiten hatte sich bereits eine lange Schlange gebildet. Zindy schaute wie wild nach allen Richtungen um auch ja nichts zu verpassen, aber eigentlich wartete sie insgeheim auf die großen und voll gefährlichen Tiere wie Giraffen, Nashörner, Elefanten Tiger und Löwen und natürlich auf die Affen. Bei jedem dieser Tiere hätte es Zindy mindestens doppelt so lange ausgehalten wie Oma Charlotte und Kisha. Den ewig langen Hals der Giraffe wäre sie gerne hinuntergerutscht, aber irgendwie traute sie sich dann doch nicht. Außerdem hatte sie mit Rutschpartien erst neulich im Museum schlechte Erfahrungen gemacht. Die Elefanten waren lustig. Allerdings bewarfen sie sich die ganze Zeit gegenseitig mit Sand und auf drei Stunden Fellpflege hatte der kleine Stoff-Orang-Utan heute keine Lust. Die Nashörner waren gar noch schlimmer. Sie wälzten sich sehr zur Freude der jungen Zoobesucher in riesigen Schlammpfützen ohne dass jemand schimpfte. Zindy war froh, dass sie die –Schwergewichter später nicht würde putzen müssen. Von den Tigern war nichts zu sehen. Sie hatten sich weit hinten in ihrem Gehege ein schattiges Plätzchen gesucht. Dort entflohen sie nicht nur der Sonne, sondern auch den neugierigen Blicken der leicht enttäuschten Menschen. Im Reich der Löwen herrschte dagegen zumindest etwas Bewegung. Zwar lag das größte Tier – ein stattlicher Löwe mit einer prächtigen Mähne – dösend auf einer Anhöhe, aber der Rest der Gruppe war etwas weiter in der Nähe eines Wasserlochs aktiv. Während alle anderen dorthin sahen, schenkte Zindy ihre ganze Aufmerksamkeit dem Löwen. Seine nur halb geöffneten Augen vermittelten für ungeübte Beobachter einen Eindruck von Schläfrigkeit. Das kleine Stoff-Orang-Utan-Mädchen wusste es jedoch besser. Hier stimmte irgendetwas ganz und gar nicht. Zindy schaltete sofort auf ihren Superheldinnen-Röntgenblick um und begann den Löwen samt näherer Umgebung abzuscannen. Kopf in Ordnung. Check. Rücken auch. Schwanz wedelt leicht. Check. Check. Hinterpfoten und Bauch wirkten normal. Check. Check. Check. Doch dann fiel ihr Blick auf die linke Vorderpfote und dort entdeckte sie etwas, das da nicht hingehörte. Ein riesengroßer böser Dorn. Und mit einem Mal erfasste Zindy die Situation richtig. Der Löwe war nicht schläfrig oder gar faul. Er hatte Schmerzen und versuchte sie auf diese Weise mit Würde zu ertragen. Der kleine Stoff-Orang-Utan verstand den Löwen. Sie hatte sich auch schon einmal eine Pinnwandnadel in die Ferse getreten und sie nur mit Mühe wieder herausbekommen. Wie viel schlimmer so ein fieser Dorn war, konnte sie sich daher gut vorstellen. Vor allem da der Löwe keine Finger hatte um ihn sich selbst herauszuziehen. Aber zu seinem Glück hatte er ja sie. Denn Zindy wusste sofort, was zu tun war. Sie hatte schließlich einmal einen Erste-Hilfe-Kurs besucht: Der Dorn musste raus. Nun war das aber leichter gesagt als getan. Zum einen gab es viele Zuseher und zum anderen war so ein Löwe gefährlich. Auch für ein Stofftier, denn mit einem Hieb seiner Pranke konnte er sie ohne weiteres zerfetzen. So als wollten sie Zindy in ihrer Zwickmühle helfen, tauchten netterweise zwei Löwenbabys am Wasserloch auf und stellten allerlei Unfug an. Das lenkte die Aufmerksamkeit der Zoobesucher dorthin. Trotzdem blieb Zindy der Löwe, der bestimmt nicht verstand, dass sie ihm nur helfen wollte. Der kleine Stoff-Orang-Utan warf noch einen letzten prüfenden Blich auf die Menschen um sie und legte dann einfach los. Denn mutiger als jetzt würde sie nicht mehr werden. Sie machte einen großen Bogen um die Vorderfront des Geheges, erklomm einen Baum und hüpfte von diesem auf den äußersten Rand der Anhöhe. Dort verharrte sie kurz regungslos. Der Löwe schien nichts bemerkt zu haben. Von Nahem sah er noch beeindruckender aus. Der kleine Stoff-Orang-Utan schluckte mehrmals schwer. Worauf hatte sie sich bloß wieder eingelassen? Doch Gefahr hin oder her, dem Löwen musste geholfen werden. Der Bereich um den Dorn war bereits rot und entzündet. Zindy wusste, dass sie nur einen einzigen Versuch hatte. Der musste also sitzen. Sie nahm die Starthaltung eines 100-Meter-Sprinters ein und katapultierte sich dann los. Gut drei Meter waren es bis zu der Pfote des Löwen. Lang genug um zu ihrer persönlichen Höchstgeschwindigkeit zu beschleunigen. Sie rannte nur Millimeter an der Pfote vorbei und griff genau im richtigen Moment nach dem Dorn. Der wollte zwar Widerstand leisten, aber Zindys wahnsinnigem Schwung hatte er nichts entgegenzusetzen. Mit einem Plop löste er sich und der kleine Stoff-Orang-Utan suchte mit seiner Beute Schutz hinter dem nächsten Steinbrocken. Alles war so schnell vonstatten gegangen, dass der Löwe wohl nur einen Windhauch verspürt hatte. Zindy pustete fürsorglich ein Mal Richtung Pfote und murmelte „Jetzt wird es wieder gut!“ ehe sie sich geschwind aus dem Staub machte. Nach dieser Aktion war sie dann so ausgepowert, dass sie beinahe die Affen verschlafen hätte. Da Kisha aber unbedingt ein Foto von ihr am Käfig der Orang-Utans wollte, lernte Zindy doch noch ihre Artgenossen kennen. Das Foto wurde gar so klasse, dass Kisha es am Abend beim Videotelefonat mit Stefanie direkt nach Berlin schickte, wo es neben Stefanie auch Heiner bewunderte. Und auch wenn das Stofffaultier nicht mit der Wimper zuckte, so sah es Zindy Heiner doch an. Er würde Stefanie so lange nerven bis sie mit ihm auch in den Zoo gehen würde.