Wie? Ihr findet, dass ein Museumsbesuch eine langweilige Sache ist? Nun, dann seid ihr wohl noch nie zusammen mit Zindy in einem gewesen.
Gut. Ein Kunstmuseum war jetzt auch nicht so ganz der Fall des kleinen Stoff-Orang-Utans. Bilder von Königen, Schlachten oder Berglandschaften fand sie doof. Das Essen, das in Stillleben dargestellt wurde, gehörte nicht auf die Leinwand, sondern auf den Tisch. Und das moderne Geschmiere hätten selbst die Hühner aus der Stofftierfabrik besser hingebracht. Als sie aber hörte, dass Kisha in ein Naturkundemuseum gehen wollte, horchte sie auf. Denn dort gab es neben anderem lebensgroße Skelette von Dinosauriern, Urzeitmenschen und auch ihren eigenen Vorfahren. Im Prospekt hatte sie außerdem gesehen, dass dazu Szenen aus deren Leben nachgestellt wurden inklusive Erklärung durch einen echten Profi. Das hörte sich doch spannend an und etwas Bildung konnte ihr nicht schaden.
Kisha hatte für sich und ihre beste Freundin Nina eine Führung gebucht. „Vom Dinosaurier zum Neandertaler“ versprach interessant zu werden und hatte mit zwei Stunden genau die richtige Dauer um hinterher das neu gewonnene Wissen bei heißer Schokolade und einem leckeren Stück Kuchen im museumseigenen Urzeit-Café sacken zu lassen. Ihre Jacken hatten sie bereits an der Garderobe abgegeben und jetzt warteten die beiden jungen Frauen in der Vorhalle auf ihren Führer, der sie und ein Dutzend weiterer Besucher gleich in die so lang vergangenen Epochen zurückführen würde.
Kisha und Nina waren voller Vorfreude. Ein kleiner Stoff-Orang-Utan in Kishas Rucksack war dagegen fast am Ausflippen. Zindy hatte schon ein paar Bilder auf Kishas Handy gesehen und konnte es nun kaum noch abwarten, dass alles in Natura zu sehen. Ein Steinzeitdorf, das einen ganzen Saal umfasste, dazu viele Urzeitaffen (die fast wie die Menschen damals aussahen) und andere längst ausgestorbenen Tiere warteten heute nur auf sie.
Ja, und dann waren da noch die ganzen Dinosaurier. T-Rex und Stegosaurus und Triceratops und all die anderen Saurusse, nicht zu vergessen das riesige Skelett eines Brachiosaurus in der großen Halle. Aus über zweihundert Knochen soll es bestehen und fünfzehn Meter lang und dreizehn Meter hoch sein. Ein so gewaltiges Lebewesen hatte das kleine Stoff-Orang-Utan-Mädchen nie zuvor gesehen. Sie war nur froh, dass es wie sie ein Pflanzenfresser war.
Vorsichtig war sie aber trotzdem und so schob sie ihren Kopf zunächst nur soweit aus Kishas Rucksack, dass sie durch den Rundbogen in die große Halle hinüberschielen konnte um einen ersten Blick auf das Kommende zu werfen.
Eigentlich konnte sie nur einen Fuß beziehungsweise dessen Knochen erkennen, aber der war so groß, dass sie kurz den Atem anhielt. Mit etwas derart beeindruckendem hatte sie nicht gerechnet. Der Dinosaurier war ja mindestens achtundachtzig sechs elf Mal so groß wie sie. Gut, dass er tot war.
Pünktlich zur vereinbarten Zeit kam ihr Führer. Nach einer kurzen Einführung ging es durch den Rundbogen in die große Halle und da bekam Zindy ihren Mund erst einmal nicht mehr zu. Viel zu überwältigend war der Anblick des gesamten Dinosaurierskeletts für sie.
Von dem, was der Museumsführer alles erzählte, bekam Zindy so gut wie nichts mit. Sie starrte nur mit leuchtenden Augen das Skelett an. Da könnte, da sollte, da musste man doch einfach schwingen. Kisha und ihre Gruppe gingen bereits zum nächsten Ausstellungsstück weiter. Wenn sie nur einmal kurz vom großen Vorderfuß über den Kopf den Rücken entlang bis zur Schwanzspitze durchturnte und danach den aufgebauten Schwung nutzte, war sie schwuppdiwupp wieder bei ihnen.
Sie warf einen prüfenden Rundumblick aus dem Rucksack. Bis auf ihre Gruppe war die große Halle gerade menschenleer und die hing förmlich an den Lippen des Museumführers. Zeit also den Rucksack mit einem Satz zu verlassen und sich hinter einem Schaukasten zu verstecken bis auch der letzte ein Stück weitergegangen war.
Vom Boden aus sah der Dinosaurier noch imposanter aus. Vorsichtig näherte sie sich dem linken Vorderfuß des Skeletts. Sie war sich eigentlich sicher, dass der Saurus tot war. Aber es konnte bestimmt nicht schaden, dass zu überprüfen.
Mit einem Finger stupste sie kaum merklich einen Zeh an. Nichts geschah.
Sie ging zum leichten Kitzeln über. Wieder geschah nichts.
Sie unterzog dem Skelett einen letzten Test und hüpfte mit ihrem ganzen Gewicht auf dessen Fuß. Nichts. Nun stand es fest. Der Brachiosaurus war wirklich tot.
Der kleine Stoff-Orang-Utan spähte noch einmal in jede Ecke. Die Luft war immer noch rein.
Sie machte zwei Schritte. Von dort konnte sie den Schienbeinknochen berühren. Zindy klopfte dreimal dagegen und dann legte sie los. Sie brauchte fünf Sekunden bis zum Schulterblatt und fünf weitere bis zum Schädel. Dort nahm sie kurz Platz, machte wie ein Rodler ein paar Paddelschläge und schoss dann in einem Rutsch über Hals, Rücken und Becken durch bis zum allerletzten Knochen ganz am Ende des langen Schwanzes. Sie war dabei so dynamisch unterwegs, dass sie ohne Stopp darüber hinausschoss und gewiss erst einige Meter weiter auf dem glatten Fußboden zum Halten gekommen wäre, wenn sie nicht im Vorbeiflitzen etwas bemerkt hätte, das sie derart aus dem Konzept gebracht hatte, dass sie in Schräglage geriet und sich mehrmals überschlug ehe sie entsetzt liegenblieb.
Sie rappelte sich auf, drehte sich um und blickte zwei Meter zurück. Zindy war sich eigentlich sicher, dass sie nirgendwo angestoßen war. Auch hatte sie nichts Knacken hören. Und doch lag da unübersehbar ein – wenn auch kleiner – Knochen.
Panik stieg in Zindy auf. Wie? Wo? Wann war ihr das passiert? Und wo gehörte er hin? Fiel vielleicht gleich das ganze Skelett um?
Um sich zu schützen hielt sie sich beide Arme über den Kopf und schielte ängstlich zu dem Skelett hinüber. Wackelte es etwa schon? Der kleine Stoff-Orang-Utan hielt den Atem an und zählte langsam bis vierzehn.
Puh. Glück gehabt. Es stürzte nicht ein.
Trotzdem fehlte der Knochen ja irgendwo.
Zindy schlich zweimal um das ganze Skelett herum und suchte zwischen Rippen, Halswirbeln und Zehen nach einer freien Stelle, in die der gefundene Knochen passen konnte. Doch sie musste sie wohl übersehen, denn sie fand keine. Nochmals auf das Skelett zu schwingen traute sie sich nicht. Zum Schluss machte sie noch mehr kaputt und der Dinosaurier fiel doch noch um.
Das kleine Stoff-Orang-Utan-Mädchen schämte sich inzwischen. Nur weil sie hatte Spaß haben wollen, war jetzt etwas so schönes beschädigt. Das einzige, was sie jetzt noch tun konnte, war den Knochen so zu platzieren, dass ihn ein Angestellter des Museums fand. Der wusste bestimmt, wo er hingehörte.
Sie wollte sich gerade auf den Weg machen als sie Stimmen hörte. Schnell versteckte sie sich wieder hinter dem Schaukasten.
Eine Frau mit einem vielleicht vierjährigen Mädchen an der Hand kam in die Halle. Hinter den beiden trottete ein wenige Jahre älteres Mädchen – vermutlich die große Schwester hinterher. Sie hielt eine geöffnete Bastelpackung „Mein eigener Dinosaurier“ in der Hand und schniefte leicht.
„Zeig Mama jetzt, wo du den Knochen hingelegt hast!“ forderte die Frau ihre kleinere Tochter auf. „Dann ist Mama auch nicht mehr böse mit dir.“
Brav stapfte die daraufhin zu dem am Boden liegenden Knochen. „Da!“ sagte sie überflüssigerweise.
Ihre Schwester begann zu Strahlen, hob das Teil auf und dann verschwanden die drei wieder.
Wer jetzt aber am meisten strahlte, war Zindy.
Sie hatte also gar nichts kaputt gemacht. Erleichtert winkte sie dem Dino zu und machte sich dann auf die Suche nach Kisha und Nina.
Den Rest der Führung blieb Zindy brav im Rucksack und auch als die zwei jungen Frauen sich im Anschluss im Café einen leckeren Schokoladenkuchen in Form eines Dinosaurierknochens genehmigten, verzichtete sie ausnahmsweise.
Von Knochen hatte sie für heute genug.