Eigentlich war Zindy schon mehr als satt. Aber das kleine Stoff-Orang-Utan-Mädchen musste unbedingt wach bleiben, denn wer sollte sonst den schönen Baum bewachen? Niklas und sein Kumpel schliefen bereits seit längerem selig neben ihr. Also blieb es allein an ihr hängen aufzupassen und die beiden sofort zu wecken, sobald sich von irgendwoher Gefahr näherte. Die gab es in dieser Nacht wohl reichlich und das einzige, was Zindy davon abhielt auch ins Reich der Träume hinüberzugleiten, war ununterbrochen Chips zu essen. So schlich sie zum x-ten Mal quer über Niklas Bauch zur halbvollen Tüte und nahm sich den jetzt aber wirklich letzten Chips.
Baum. Bewachen. Da klingelt es bei den meisten von euch. Für Zindy war das aber alles Neuland und deshalb kehren wir mit ihr zum Anfang der Geschichte zurück und das war in diesem Fall vor einigen Stunden am frühen Abend gewesen.
Der kleine Stoff-Orang-Utan hatte auf seinem Kissen auf Kishas Sofa gelegen und friedlich gedöst als er sanft hochgehoben worden war. Zindy hatte vorsichtig ein Auge aufgemacht und Niklas erkannt, der sie hinunter in sein Zimmer getragen hatte.
Dort hatte der schon erwähnte Kumpel gewartet. Der hatte auf Zindy gedeutet. „Ein Affe? Ich dachte, du hast dieses Igelteil?“
„Igelteil?“ hatte sich Niklas empört. „Malaika ist ein süßes Stoffigelmädchen, aber nicht die mutigste. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, sie hat sich irgendwo versteckt, damit sie nicht raus muss. Sie ist schon ein kleiner Schießer.“
Sein Kumpel hatte sich nochmals in Niklas Zimmer umgesehen und laut gelacht. „Vielleicht würdest du sie aber auch finden, wenn du mal ein wenig aufräumen würdest.“
Niklas hatte ein T-Shirt nach ihm geworfen. „Du hörst dich schon an wie meine Mutter. Nee. Zindy ist für unser Vorhaben eh besser. Wo Leni doch neulich im Erste-Hilfe-Kurs so auf sie abgefahren ist.“
„Du hast es drauf, Niklas“, hatte sein Kumpel gemeint und dann waren die beiden – Zindy im Schlepptau – losgezogen.
Ihr erstes Ziel war der Garten hinter dem Elternhaus von Niklas Kumpel gewesen. Dort hatte eine frisch gefällte, knapp drei Meter lange Birke im Gras gelegen. Zwei kleine Mädchen, offensichtlich die Schwestern des Kumpels waren gerade eifrig dabei gewesen, bunte Bänder an die Äste der Birke zu binden. Dabei hatten sie „Unser Bruder ist verliebt, unser Bruder ist ver-li-iebt“ gesungen. Als sie ihren Bruder hatten kommen sehen, waren sie albern kichernd rasch ins Haus geflüchtet.
Zindy hatte bis dahin nichts verstanden, doch zu ihrem Glück hatte sie die Mutter des Kumpels gleich darauf aufgeklärt.
Kaum dass die Mädchen nämlich im Haus verschwunden gewesen waren, war die Frau herausgekommen und hatte den Baum bewundert.
„Mein Sohn stellt seinen ersten Maibaum. Ich hoffe, diese Leni weiß das zu schätzen“, hatte sie gelächelt. „Dein Vater hat mir nie einen gestellt.“
„Das hält sie ihm noch bis zu ihrer goldenen Hochzeit vor“, hatte Niklas Kumpel ihm hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert. „Ich kann nur hoffen, dass dein Vater diesen Brauch heilig gehalten hat.“
„Darauf kannst du wetten. Klassisch. Drei Stück. Jedes Jahr am 1. Mai muss sich die Familie die Geschichte aufs Neue anhören.“ Dann hatte Niklas sie ihm und seiner Mutter in aller Ausführlichkeit erzählt und dadurch hatte auch Zindy es verstanden.
1. Mai. Freinacht. Baum für die Liebste oder den Liebsten. Alle glücklich.
Sobald es richtig dunkel geworden war, waren die Jungs zu Fuß aufgebrochen, denn Leni wohnte praktischerweise nur ein paar Straßen weiter.
Den Baum auf der Schulter, ihre Rucksäcke prall gefüllt mit Schnitzelsemmeln, Getränken und je einer Chipstüte sowie Zindy in Niklas und einem arg zerzausten Stofffrosch im Rucksack seines Kumpels hatten sie ihr Ziel, das Haus, in dem Leni mit ihrer Familie wohnte, schnell erreicht.
Das Haus war bereits dunkel gewesen. Trotzdem hatten die Jungs noch etwas gewartet. Erst dann hatten sie den Baum innen am Zaun angebunden, ein rotes Herz am Stamm befestigt und sich auf den Rasen fallen lassen. Da es allgemein üblich und erlaubt war, den Baum eines anderen zu klauen, hatten sich die beiden Jungs auf eine lange, lange Nacht eingestellt, waren dann aber irgendwann doch eingeschlafen.
Und deshalb also aß Zindy nun ununterbrochen.
Und bewegte dabei eifrig ihren Kopf von links nach rechts und wieder zurück und spähte dabei in die Nacht hinaus. Denn irgendwo lauerte die Gefahr. Irgendwo dort in der Dunkelheit lauerten die, die nur danach suchten einen unbewachten Maibaum zu finden, den sie mitnehmen und unter Umständen vielleicht sogar mit demselben Widmungsschild wieder aufstellen konnten.
Und sie würde das nicht zulassen.
Nicht nur um sich wachzuhalten, sah sie sich nach ihren Möglichkeiten um, fand aber nicht wirklich viel.
In der Straße standen überwiegend Einfamilienhäuser. Gepflegte Vorgärten. Einige wenige Autos parkten auf der Straße. Ansonsten war sie menschenleer, sah man einmal von dem einzelnen älteren Herrn ab, der zu dieser inzwischen frühmorgendlichen Stunde Zindy hatte kurz hochfahren lassen bis sie bemerkt hatte, dass er nur mit seinem Hund Gassi ging. Na, wenigstens gab es so irgendetwas zu schauen.
Mann und Hund waren schon fast nicht mehr zu sehen, da passierte es.
Wie aus dem Nichts tauchten drei Gestalten auf, die scheinbar gelangweilt den Gehweg heraufschlenderten. Aber Zindy konnten sie nicht täuschen. Wer die Kapuze seines Hoodies so tief ins Gesicht gezogen trug, der hatte nichts Gutes im Sinn.
Als sie näherkamen, hörte Zindy sie gemein kichern. Einer deutete auf den Maibaum hinter ihr. Sofort wusste das kleine Stoff-Orang-Utan-Mädchen, dass sie sich nicht geirrt hatte: Hier drohte höchste Gefahr.
Die Jungs wecken, schoss es ihr durch den Kopf. Doch das war leichter gesagt als getan. Sie konnte die beiden ja nicht wachrütteln.
Sie hauchte Niklas ins Ohr, aber der zuckte nur kurz und schlief weiter. Sie hüpfte auf seinem Bauch, was er gar nicht wahrnahm. Sie hielt ihm einen Chips unter die Nase und warf eine leere Getränkedose um, doch niemand nahm davon Notiz.
Die drei Gestalten kamen immer näher und näher. Einer kruschtelte bereits in seiner Hosentasche und holte dann ein Taschenmesser heraus. Wozu war klar. Er würde damit gleich die Kabelbinder durchtrennen, die den Baum hielten.
Wenn Zindy so etwas können würde, würde sie jetzt zu Schwitzen beginnen. So aber wuselte sie nur aufgeregt hin und her. Viel Zeit blieb ihr jedoch nicht mehr. Bald würden die drei Möchtegernbaumdiebe so nahe sein, dass sie sich nicht mehr unbemerkt bewegen konnte.
Zindy hatte noch eine allerletzte Idee wie sie das Unheil verhindern konnte. Sie war sich sicher, dass es klappen würde, auch wenn Niklas und sein Kumpel dadurch vielleicht etwa Ärger bekommen würden. Aber schließlich ging es hier um die große Liebe.
Deshalb kletterte sie eilig auf den Gartenzaun hoch, balancierte oben zur Säule, nahm dort ein wenig Anlauf und hüpfte über Bio-, Restmüll- und Papiertonne direkt auf das Geländer der Eingangstreppe. Nochmals balancieren und schon stand sie direkt vor der Haustürklingel. Und auf die drückte sie mit allem, was sie hatte. Kopf, Hand, Fuß, Po – sie läutete und läutete und läutete.
Nur dreißig Sekunden glaubte sie keinen Erfolg gehabt zu haben.
Dann öffneten sich gleich mehrere Fenster in dem Haus.
Im ersten erschien ein ziemlich verstrubelter Jungenkopf. „Was ist los, Jungs?“ murmelte er im Halbschlaf. „Kommen die Aliens?“ Ganz offensichtlich hatte er gerade wild geträumt.
Ein Fenster weiter streckte ein Mann seinen zornroten Kopf heraus. „Welcher Idiot war das?“ schrie er in die Dunkelheit und suchte dabei mit den Augen die Straße ab. Dann entdeckte er fünf Jungs und einen angebundenen Baum rechts neben seinem Gartentor.
„Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?“ Er fuchtelte wild mit den Armen. „Und den Baum könnt ihr gleich wieder mitnehmen. Solche wie euch braucht meine Tochter bestimmt nicht.“
Die drei Gestalten suchten daraufhin schleunigst das Weite. Niklas und sein Kumpel dagegen standen nur mit offenem Mund da.
„Aber, aber, wir wollten, wir dachten“, stammelte Niklas Kumpel. „Freut sie sich nicht?“
Lenis Vater wollte gerade nachlegen, da hörten alle aus dem dritten Fenster ein Flüstern. „Oh mein Gott, ist das süß!“ strahlte ein junges Mädchen.
Leni.
„Was ist süß?“ Neben dem Mann mit dem roten Kopf erschien eine Frau im mittleren Fenster. Nur Sekunden später war sie sich mit ihrer Tochter einig. „Oh mein Gott, ist das süß!“ strahlte auch sie.
Lenis Vater hätte gerne weiter getobt, aber gegen Frau und Tochter hatte er keine Chance. So ergab er sich in sein Schicksal und schwieg.
Zehn Minuten später saßen die Jungs samt Rucksack und Stofftieren im Wohnzimmer von Lenis Familie bei Kuchen und Cola. Niklas Kumpel grinste dabei mit Zindy um die Wette.
Der Kumpel, weil er mit dem Maibaum bei Leni voll ins Schwarze getroffen hatte.
Und Zindy, weil sie sich zwei der bunten Bändchen stibitzt hatte. Wenn sie die später Gerome umband – fand zumindest sie – hatte sie ihren eigenen kleinen Maibaum.
Lies gleich weiter: "Zindy im Supermarkt"