Zindy kauft einen Weihnachtsbaum
Es war schon fast zu kitschig. Der Dezember war gekommen und hatte mit seiner Kälte den Herbstnebel vertrieben. Jedermann in der kleinen Stadt wartete auf den ersten Schnee und pünktlich zum heutigen Anlass hatte dann auch leichter Schneefall eingesetzt.
Dick eingemummelt standen Kisha und Niklas vor dem Haus und warteten auf Papa Daniel. Der hatte sich wie jedes Jahr die letzten Ratschläge von Mama Kathrin und Oma Charlotte abholen dürfen und holte fuhr nun endlich den Wagen aus der Garage.
Nicht zu groß sollte er sein, aber auch nicht zu klein. Gerade, aber mit Charakter. Genügend Zweige für den Schmuck und die Kerzen, aber nicht zu dicht. Und vor allem: Er sollte nicht vor dem 1. Januar zu Nadeln beginnen.
Mama Kathrin und Oma Charlotte wussten genau, was sie wollten. Es umzusetzen war wie immer das Problem von Kisha, Niklas und natürlich Papa Daniel. Die beiden Frauen machten es sich dagegen leicht. Sie blieben zu Hause im Warmen und schmückten in aller Ruhe Flur und Wohnzimmer.
Zindy hatte schon gestern bei einem Telefonat zwischen Kisha und ihrer besten Freundin Nina mitbekommen, dass am nächsten Tag der Weihnachtsbaumkauftag sein würde. Eine Vater-Tochter-Sohn-Tradition im Hause Knirps und Zindy war sofort klar gewesen, dass sie morgen dabei sein musste. Schließlich musste der Baum auch ihren Ansprüchen gerecht werden. Ob er schön gewachsen war oder die Nadeln über ein sattes Grün verfügten, war ihr im Gegenteil zu den Knirpsen nicht wichtig.
Er musste Schwingerqualitäten haben. Man musste ein paar Plätzchen zwischen seinen Zweigen verstecken können. Und er musste ein paar starke, eng zusammenliegende Äste haben, denn das kleine Stoff-Orang-Utan-Mädchen wollte einmal mit Gerome im Baum übernachten.
Deshalb war Zindy als Kisha noch ihren zweiten Handschuh suchte schnell in Kishas kleinen Rucksack geschlüpft. Geldbeutel und Handy wurden zur Seite geschoben, damit neben ihr selbst auch eines von Kishas dicken Halstüchern Platz hatte. Denn Zindy wollte es auf ihrem Ausflug warm und kuschelig haben.
Weit hatten sie es nicht bis zum Gartencenter. „Denkt daran“, ermahnte Papa Daniel seine Kinder während sie sich vorbei an Baumschmuck und Gartengeräten zu den Bäumen im Außenbereich begaben. „Wer einen guten Baum hat, lässt ihn nicht mehr los.“ Er blickte sich nach den anderen Kunden an. „Die Konkurrenz schläft nicht.“
Kisha und Niklas nickten brav und dann schwärmten die drei aus.
Zindy, die längst aus Kishas Rucksack herausschielte, hätte sich gerne noch etwas bei den Glitzerkugeln aufgehalten, aber das musste sie sich anscheinend für später aufheben. Der Baum hatte jetzt höchste Priorität. Ohnehin überflüssiger Weihnachtsdekoschnickschnack, ja selbst ein Satz der neuesten Bohrer für Papa Daniels Bohrmaschine waren im Augenblick zweitrangig. Nicht dass ihnen noch jemand ihren Baum vor der Nase wegschnappte. Und diese Gefahr bestand auch tatsächlich, denn außer ihnen hielten sich aktuell noch gut ein halbes Dutzend Familien im Bereich der Weihnachtsbäume auf.
Papa Daniel ging die Sache strukturiert an. Er orientierte sich an einer Tafel, wo welche Baumart und –länge zu finden war und begab sich unverzüglich in die richtige Reihe, wo er einen Baum nach dem anderen prüfte.
Dagegen liefen Kisha und Niklas planlos zwischen den vielen Bäumen hin und her und sahen sich gelegentlich einen Baum an. Er wurde von ihnen kurz aufgestellt, nur damit sie ihn dann kopfschüttelnd wieder an seinen Platz zurückzustellen. Nein, mit so einem brauchten sie Mama Kathrin und Oma Charlotte nicht kommen. Von Minute zu Minute sank dabei ihre ohnehin nicht allzu große Begeisterung.
Zindy, der das natürlich nicht entging, begann deshalb selbst nach einem passenden Baum zu suchen. Sie befreite sich im richtigen Moment vollständig aus dem Rucksack, hüpfte in die Äste der höchsten Tanne und schwang sich an deren Stamm nach oben. Für das knirpssche Wohnzimmer war die Tanne viel zu groß, aber um den Bereich zu überblicken, genau richtig.
Papa Daniel hatte schon mehrere Bäume genauer gecheckt, aber ihr Baum war nicht darunter gewesen. Den entdeckte niemand anderes als der kleine Stoff-Orang-Utan zuerst.
Er stand gut zwanzig Meter weiter zwischen zwei eher langweiligen, für sie schon zu gleichmäßig gewachsenen Exemplaren und war einfach nur perfekt.
Schöne, dicht stehende Zweige mit Tausenden von Nadeln, die jetzt mit einer Schneepuderzuckerschicht bedeckt waren. Zumindest die Nadeln ganz oben und die, die im unteren Drittel der Äste eher außen waren. Das Beste aber war, dass sich in der Nähe des Stamms mindestens zwei Nadelteppiche verbargen. Wenn man darauf ein kleines Tuch oder eine Serviette hinlegte, war es dort bestimmt urgemütlich.
Die Sache hatte nur einen Haken. Jemand hatte sich den Baum bereits reserviert, denn er hatte eine große gelbe Schleife an einem der Äste. Daran war ein Stück Pappkarton befestigt, auf dem gut sichtbar ein Name stand. Ein genervter Teenager stand neben dem Baum. Er tippte fortwährend auf sein Handy und murmelte dabei ein halblautes „Ja, der Baum ist schon verkauft.“ In Endlosschleife vor sich hin.
Zindy fand das doof, hatte sie sich doch schon gnadenlos in den Baum verliebt. Jeder andere wäre jetzt nur 2. Wahl. Enttäuscht ließ sie sich auf ihren Hintern fallen und seufzte schwer. Sie hatte gar keine Lust mehr die Suche fortzusetzen. Doch dann kam ihr der Zufall zu Hilfe.
Von irgendwoher schrie jemand: „Max, wir nehmen doch einen anderen Baum.“
Max, der Teenager, murmelte „War eh klar.“, riss das Stück Pappkarton ab und schlurfte von dannen.
Das war Zindys Chance. Sie musste nur Kishas Aufmerksamkeit auf den Baum lenken.
Das war jedoch gar nicht nötig. Die hatte den Baum bereits selbst entdeckt und war schon auf dem Weg dorthin. Allerdings hatte noch jemand anderes genau das gleiche Ziel.
Genau von der entgegengesetzten Seite ging ein Junge auf genau denselben Baum zu und es war nicht irgendein Junge. Es war der ziemlich dumm dreinblickende Junge. Zindy kannte ihn sofort.
Er hatte Zindy noch nicht gesehen. Aber er sah Kisha und Kisha sah ihn. In beiden Augen blitzte es kurz auf und dann stürmten sie los.
Kisha schlug mehrere Haken und sprang dabei elegant über ein paar Kisten mit Christbaumständern. Der Junge wiederum stieß einen Einkaufswagen zur Seite und wich geschickt einem Gabelstapler aus. Zeitgleich erreichten sie den Baum und stießen neben ihm zusammen.
„Unsrer!“ schrei Kisha und war ihren Schal auf einen der Äste.
„Unsrer!“ schrei auch der ziemlich dumm dreinblickende Junge und ließ seine Mütze auf dem Ast daneben landen.
„Das könnte dir so passen", fuhr Kisha den Jungen an. „Mein Schal ist länger.“
„Und meine Mütze bunter!“ gab der zurück.
Finster blickten sich die beiden an. Keiner wollte nachgeben. Wer weiß wie es ausgegangen wäre, wenn nicht der Christbaumverkäufer schlichtend dazwischen gegangen wäre.
„Ist doch ganz einfach“, meinte der. „Den Baum bekommt der, dem das Stofftier gehört. Das ist ordentlich am Baum angebunden.“
Kisha und der ziemlich dumm dreinblickende Junge fixierten sich noch kurz und wandten sich dann dem Baum zu.
Die gelbe Schleife war noch immer an dem Baum befestigt. An einem Schleifenende hing jedoch ein Stofftier. Ein einfacher Knoten hielt es am Baum.
Genauer gesagt war es ein Stoffäffchen.
Noch genauer gesagt war es ein oranges Stoff-Orang-Utan-Mädchen.
Zindy.
Wie sie den Knoten so schnell hinbekommen hatte, war ihr Geheimnis. Wie sie es so schnell zu dem Baum geschafft hatte auch. Es ist jedoch anzunehmen, dass ihre Schwingerqualitäten dabei nicht von Nachteil gewesen waren. Einzig die Tatsache blieb, dass sie den Baum unübersehbar reserviert hatte.
„Dann ist das unser Baum“, stellte Niklas fest und befreite Zindy. „Der Affe gehört meiner Schwester.“ Papa Daniel und er waren inzwischen ebenso wie die Eltern des ziemlich dumm dreinblickenden Jungen bei dem begehrten Objekt eingetroffen. „Ich lasse ihn dann mal einpacken.“
Damit war die Angelegenheit für fast alle erledigt. Papa Daniel und Kisha schmunzelten und die Eltern zuckten mit den Schultern.
„Es gibt schließlich noch genug andere Bäume“, sagten sie zu ihrem Sohn. „Der war ohnehin etwas zu klein.“
Kisha grinste Niklas verstohlen ein „Das warst doch du!“ zu und Zindy kam zurück in Kishas Rucksack.
Von dort sah sie wie die Familie einen anderen Baum in Augenschein nahm. Während die Eltern ihn genau prüften, drehte sich der ziemlich dumm dreinblickende Junge noch einmal zu Zindy um und starrte sie mit offenem Mund an.
Die wagte es ihm zuzuwinken. Denn das würde ihm sowieso keiner glauben.
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