Zindy im Erste-Hilfe-Kurs
„Mann, ich habe so was von keine Lust auf diesen Erste-Hilfe-Kurs“, maulte Niklas beim Abendessen, „aber unser Klassenlehrer hat zu uns gesagt, dass nur diejenigen, die daran teilnehmen, auch mit zum Schüleraustausch dürfen.“ Und da – das wusste jeder im Hause Knirps – wollte er unbedingt dabei sein. Schließlich ging es nicht nach Buxtehude oder in irgendein einsames Bergdorf in den Schweizer Alpen, sondern in die französische Hauptstadt Paris. Niklas und früher auch Kishas Schule unterhielt schon seit vielen Jahren eine enge Freundschaft zu einer Pariser Schule und einmal im Jahr besuchten sich die Schüler der höheren Klassen gegenseitig.
Erste-Hilfe-Kurs? Schüleraustausch?
Für Zindy klang beides spannend und im Gegensatz zu Niklas würde sie an beiden Veranstaltungen mit Freude teilnehmen. Schüler zu tauschen war bestimmt lustig und anderen helfen zu können wichtig. Was, wenn Gerome sich an einem Keks verschluckte oder Malaika in die Badewanne fiel? Sie musste sie doch retten können und da war ein solcher Kurs gewiss nicht falsch.
Da Niklas am Morgen seinen Schulrucksack meist achtlos irgendwo bei der Garderobe ablegte, war es für den kleinen Stoff-Orang-Utan ein leichtes hineinzuschlüpfen und so saßen pünktlich um 7.45 Uhr ein gelangweilter Niklas und eine hochmotivierte Zindy im Klassenzimmer. Vorne am Pult richtete die Kursleiterin noch die letzten Materialien her. Aber außer Zindy nahm niemand Notiz davon. Alle quatschten nur wild durcheinander. Zindy fand das ziemlich unhöflich. Schließlich ging es gleich um Leben und Tod.
Als die Frau dann loslegte waren die Schülerinnen und Schüler zumindest leise. Viele dösten vor sich hin, sahen aus dem Fenster oder tippten auf ihren Handys. Gerade einmal eine Handvoll hörten zu. Allerdings niemand so aufmerksam wie Zindy.
Sie lernte wie man einen Notruf absetzte und was bei Vergiftungen, und Verbrennungen zu tun war. Sie erfuhr, was ein Schock ist und wie man vorging, wenn jemand zu ersticken drohte. Verschiedene Verbandsmaterialien wurden vorgestellt und Blutungen gestillt.
Und dann ging es von der Theorie in die Praxis.
Mit einem Schlag waren alle hellwach. Die Handys wurden bei Seite gelegt und alle stürmten nach vorne um sich mit Scheren, Wundauflagen, Verbandspäckchen und Dreieckstüchern einzudecken. Zurück am Platz begannen sie dann damit ihren Banknachbarn fachmännisch zu verarzten. Manchen gelang es auch wirklich gut. Bei anderen dagegen rutschte der Verband oder löste sich gar ganz auf.
„Warte“, meinte Niklas zu seinem Verwundeten, dem der Verband vom Kopf zu rutschen drohte. „Ich habe noch etwas Klebeband in meinem Rucksack. Damit sollte er zumindest fünf Minuten halten.“
Er bückte sich und kramte nur kurz im Inneren des Rucksacks. Das Klebeband fand der nicht, dafür aber zu seiner Überraschung etwas anderes. Etwas Weiches. Etwas ihm gut bekanntes.
„Zindy“, lachte er und augenblicklich war der Verband, der sich inzwischen zu den Schultern hin aufgelöst hatte, vergessen.
Er gab seinem Nachbarn einen Stoß in die Seite. „Das wird eh nichts. Komm, wir verpassen dem Orang-Utan einen Ganzkörperverband.
„Ist das nicht der Affe von neulich?“ grinste der und jetzt erkannte ihn auch Zindy. Neben Niklas saß sein Kumpel vom Skaterpark.
Eigentlich wollte Zindy nicht verbunden werden, aber ehe sie sich versah, war sie von Kopf bis Fuß eingewickelt. Nur noch die Augen, ein Ohr und ihre linke Hand waren von dem kleinen Stoff-Orang-Utan noch zu sehen. Der Rest war mit drei Lagen Verbandsmaterial umwickelt.
Zindy fand es etwas unbequem und stickig. Außerdem bekam sie so kaum noch etwas von ihrer Umgebung mit. Die Jungs hatten sie nämlich auf den Rücken gelegt und das einzige, was sie jetzt noch sehen konnte war die eintönig graue Decke.
Niklas und sein Kumpel waren dagegen sehr zufrieden mit ihrem Werk.
„Da haben wohl zwei die Aufgabe nicht so ganz verstanden“, hörte Zindy plötzlich eine freundliche Stimme. Die Kursleiterin war nämlich durch die Reihen gegangen und betrachtete nun belustigt das Verbandsknäuel, in dem sich allem Anschein nach ein Stofftier befand. „Künstlerisch vielleicht wertvoll, aber mit dem Material etwas übertrieben“, urteilte sie und lächelte auf das Zindy-Bündel. „Auspacken!“ befahl sie den Jungs. „Sonst erstickt uns das Stofftier noch.“
Unter dem Gekichere und Gelästere ihrer Mitschüler mussten die beiden den kleinen Stoff-Orang-Utan vorsichtig aus seinem Verbandsgefängnis befreien. Doch kaum war sie draußen, änderte sich die Stimmung schlagartig.
„Ist das nicht der süße kleine Affe aus dem Skatervideo von neulich?“ rief ein Mädchen. „Der mit den coolen Moves? Das war sooo süß.“
Zindy sah sich aus den Augenwinkeln nach ihrem Fan um und strahlte mit Niklas und seinem Kumpel um die Wette.
Eben noch hatten die anderen Jungs über die beiden gelacht, aber jetzt waren sie ganz still. Wenn die Mädchen etwas süß fanden, waren sie abgemeldet.
„Sie heißt Zindy und wohnt bei uns im Haus“, erklärte Niklas dem Mädchen so großzügig, dass sogar die Kursleiterin lächelte. Offensichtlich stand sie auf Stofftiere.
„Na, wenn das so ist“, meinte sie und hob Zindy hoch, „lassen wir sie zusehen wie ihr euch bei den anderen Übungen anstellt.“ Sie nahm das kleine Stoff-Orang-Utan-Mädchen mit nach vorne und gab ihr einen Logenplatz auf dem Lehrerpult.
Das fand Zindy natürlich klasse. Endlich konnte sie alles ordentlich sehen ohne sich den Hals verrenken zu müssen und ab und an kitzelte sie sogar jemand im Vorbeigehen. Ein Mädchen steckte ihr sogar heimlich zwei Gummibärchen zu.
Die Versuche der Jugendlichen sich gegenseitig in die stabile Seitenlage zu bringen oder dem anderen einen Helm abzunehmen waren zu Beginn noch stark verbesserungsbedürftig. Im wirklichen Leben hätte so mancher noch eine Verletzung mehr gehabt. Zindy war froh, dass sie dafür nicht mehr als Übungsobjekt dienen musste. Zum Schluss hätten sie ihr noch den Kopf abgerissen. Nein, es war schon besser zuzusehen und dabei ein rotes Gummibärchen zu lutschen.
Doch mit der Zeit bekamen die Mädchen und Jungen den Dreh mehr und mehr heraus, so dass selbst die Kursleiterin irgendwann mit den Ergebnissen zufrieden war.
Und dann ging es an die Königsdisziplin: Die Herz-Lungen-Wiederbelebung.
Eine Übungspuppe wurde auf einer Decke auf den Boden gelegt. Nacheinander dürften sich nun die Schüler daran versuchen, sie durch Beatmen und Herzmassage am Leben zu halten. Bei dem einen geschah fast gar nichts, bei anderen wurde sie dagegen fast zum Platzen gebracht bzw. zerquetscht.
„Ihr sollt die Person retten, nicht töten!“ kommentierte die Kursleiterin und zeigte noch einmal, wie es richtig funktionierte.
Nach ihr kam Niklas an die Reihe. Zu Zindys Erstaunen stellte er sich jedoch recht geschickt an und wurde sogar gelobt.
Bald darauf war der Kurs auch schon zu Ende. Jeder Schüler erhielt eine Urkunde. Zindy stibitzte noch schnell ein kleines Verbandspäckchen und dann ging es auch schon wieder zurück nach Hause.
Dort warteten bereits Gerome und Malaika auf sie. Voller Stolz zeigte Zindy ihnen, was sie heute gelernt hatte. Dabei musste sie aber feststellen, dass die beiden als Übungspatienten noch weniger geeignet waren als sie. Wenn sie nicht gerade herumzappelten, waren sie ständig am Kichern.