Zindy übt die Stofftierregeln
Begonnen hatte alles in einer kleinen Fabrik irgendwo in Europa. Das erste, woran sie sich dort erinnern konnte, war dieser aromatisch warme Duft gewesen. Kaffee – wie sie später erfuhr. Dann waren da diese Stimmen gewesen, freundliche Stimmen. Sie hatte zwar nichts verstanden, aber es wurde viel gelacht. Hier und da hatte es ein wenig gepikst. Sie war schwerer geworden. Dann hatte sie mit einem Male mit mehreren Teilen schlenkern können. Das waren wohl ihre Arme und Beine. Warme Hände hatten etwas in sie hineingestopft, ein bisschen gedrückt und wieder etwas herausgenommen. Hier war noch etwas gezupft, da noch etwas nachgedrückt worden. Dann hatte es ein leises Plopp gegeben und sie hatte plötzlich sehen können.
Einen Tisch mit Stoffen, Fäden, Nadeln, Augen und einer Kaffeetasse. Die warmen Hände hatten sie noch ein paar Mal am Rücken gepikst. Schließlich war sie umgedreht worden. Die Hände gehörten zu einer Frau, die sie noch einmal sorgfältig untersucht und wohl für gut befunden hatte. Sie war in einen Korb gelegt worden, in dem schon mehrere andere lagen.
Beinahe hätte sie etwas gesagt, doch die anderen hatten ihr zu schweigen bedeutet. Es waren noch weitere in den Korb dazugekommen ehe er in einen anderen Raum getragen worden war. Dort waren sie einzeln herausgenommen und in große Kunststoffboxen geworfen worden. Sie hatte nach links und rechts gesehen und erstaunt festgestellt, daß im Vergleich zum Korb hier alle anderen völlig gleich aussahen. Vorsichtig hatte sie an sich selbst herabgesehen. Ups. Sie auch.
Noch ein paar Mal war jemand mit einem Korb hereingekommen. In den Boxen war es voller und voller geworden. Irgendwann waren dann die Lampen an der Decke ausgegangen und die Tür geschlossen worden. Augenblicklich war der Raum zum Leben erwacht. In den einzelnen Boxen schnatterte, gackerte, brüllte und mähte es um die Wette.
Plötzlich ging eine einzelne Lampe an. Jemand murmelte: „Nicht schon wieder!“
Sie versuchte sich zwischen ihren Artgenossen nach vorne zu drücken.
Die Lampe stand auf einem Tisch mitten im Raum. Neben der Lampe stand ein Was-auch-immer und ein Kenn-ich-auch-nicht.
Das Was-auch-immer schlug mehrmals gegen die Lampe. Es wurde still.
„Die es schon kennen halten die Klappe! Die Neuen hören zu!“ Das Was-auch-immer blickte streng in die Runde. „Der Boss erklärt euch alles!“
Wie sich herausstellte war Kenn-ich-auch-nicht der Boss.
Sie drückte noch jemandem in ihrer Box einen Fuß ins Gesicht um einen besseren Platz zu bekommen und lauschte dann aufgeregt seinen Ausführungen.
Okay. Sie waren also alle Stofftiere. Gemacht um Menschen zu gefallen. Es gab Wölfe und Schafe, Erdmännchen und Pferde und viele mehr.
Und sie war ein Orang-Utan.
Kenn-ich-auch-nicht lebte schon lange hier. Er war ein falsch zusammengenähter Teddybär und das Maskottchen der Fabrikangestellten. Nachts war es seine Aufgabe, die Stofftiere auf die Welt da draußen vorzubereiten. Er gab ihnen Informationen zu den einzelnen Tierarten und natürlich auch zu den Menschen.
Das Schwein Was-auch-immer ging derweil von Box zu Box und gab den Neuen ihre Namen. „Ulu, Vicky, Wambo.“ Es deutete nacheinander auf drei Elefanten in der Nebenbox und dann kam es zu ihrer. „Xanti, Yves und …“
Und?
„… und Zindy.“
Damit war die Namensvergabe für heute beendet.
„So und jetzt zum Allerwichtigsten.“ Kenn-ich-auch-nicht machte eine theatralische Pause. „Den Stofftierregeln.“
Und genau diese Stofftierregeln kamen Zindy jetzt wieder in den Sinn. In letzter Zeit war es nämlich manchmal ziemlich knapp geworden. Vielleicht sollte sie sich diese nochmals vor Augen führen? Und ein bisschen üben!
Während des Transports von der Fabrik nach „Schörmänie“ In hellen Kisten mit vielen Luftlöchern und später im Kaufhausregal hatten sie die anderen immer wieder aufgesagt: „Bla bla nett. Bla bla nicht sprechen. Bla bla bla.“
Zindy hatte meist mit dem Chor mitgemurmelt und war dabei früher oder später immer eingeschlafen. Langweilige Theorie. Sie brauchte Praxis!
Im Moment war das Haus leer. Alle Knirpse – so nannte Zindy die Mitglieder der Familie liebevoll, obwohl Oma Charlotte nicht „Knirps“, sondern „Malm“ hieß – waren entweder in der Schule, bei der Arbeit oder beim Einkaufen. So würde sie keiner beim Üben stören.
Zindy machte sich auf den Weg ins Bad und setzte sich dort vor Kishas Kosmetikspiegel. Lange betrachtete sie ihr Spiegelbild. Ihre Gesichtszüge waren - auch objektiv betrachtet – putzig. Das orangefarbene Fell flauschig weich und harmonisch auf ihren schokoladefarbenen Teint abgestimmt. Du siehst gut aus, Zindy! Sie zwinkerte ihrem Spiegelbild zu.
So, jetzt würde es deutlich schwieriger werden. Die Tatsache, daß Kisha mal wieder vergessen hatte das Radio im Bad auszuschalten, kam ihr nun entgegen. Der Moderator kündigte ein Lied aus den 80ern an. Zindy nahm den Rhythmus auf und tanzte auf dem Badewannenrand.
Sie wusste genau, worauf es jetzt ankam. So durfte sie nicht erwischt werden. Die Menschen vertragen keine Stofftiere, die sich bewegen oder gar sprechen können. Als Kinder, ja da finden sie das toll, aber wenn sie erwachsen werden, verdrängen sie das. Bis auf Oma Charlotte vielleicht.
Das Lied wurde für eine eilige Verkehrsdurchsage unterbrochen. Das war Zindys Stichwort. Schlagartig hörte sie zu singen und zu tanzen auf. Sie blieb so abrupt stehen, daß sie das Gleichgewicht verlor und in die Wanne fiel. Wie gut, daß sie ein Stofftier war. Keine blauen Flecken, kein gebrochenes Bein und für einen Menschen würde es so aussehen als hätte jemand ein Stofftier achtlos in die Badewanne gelegt. Nicht sprechen, nicht bewegen – klappte wieder.
Zurück auf den Wannenrand, rüber zum Duschschlauch und von dort hüpfte Zindy aufs Waschbecken. Sie hatte nämlich bemerkt, daß Kisha vergessen hatte die Zahnpastatube zuzudrehen. Der glatte Deckel bereitete ihr einige Mühe, aber letztendlich schaffte sie es, die Tube zu verschließen. Sie schlitterte vor Begeisterung durchs Waschbecken. Top gemacht, Zindy, sagte sie sich. Vier der fünf Stofftierregeln perfekt umgesetzt.
Regel 1: Nett aussehen. Check.
Regel 2: Nicht vor Menschen sprechen. Check.
Regel 3: Sich nicht vor Menschen bewegen. Check.
Regel 4: Sei gut zu Deinem Menschen und hilf ihm. Check. Check. Check.
Damit blieb nun nur noch ihre Lieblingsregel. Nummer 5 war die schönste und schwierigste zugleich. Da aber keiner zu Hause war, war das Risiko für „Spaß haben, aber sich nicht erwischen lassen“ relativ gering. Sie musste es nicht einmal so aussehen lassen als ob es jemand anderes gewesen wäre. Praktisch!
Sie holte sich einen von Kishas Wollsocken und rutschte darauf die Badewanne auf und ab. Sie trainierte auf dem Sofa von Kissen zu Kissen hüpfen. Sie spannte ihren Schal zwischen zwei Wasserflaschen und turnte solange Riesenfelgen bis ihr schwindlig wurde. Und sie versteckte eine Packung Tempos in einem von Kishas vielen Turnschuhen.
Urplötzlich musste Zindy gähnen. Das ganze Geübe hatte sie doch sehr angestrengt. Eine kleine Pause wäre jetzt nicht schlecht.
Sie erinnerte sich daran, daß in einer Schale auf Kishas Küchentisch immer etwas Obst lag. Vielleicht sollte sie sich ein Häppchen gönnen. Eine kernlose Traube kann nie schaden.
Lies gleich weiter: "Zindy findet einen Freund"