Zindy will Berlin sehen
Wenn du in einem wirklich großen Kaufhaus in Berlin im zweiten Stock in der Spielwarenabteilung im Stofftierregal im untersten Regalbrett drei Monate verbracht hast, kennst du nicht wirklich etwas von Berlin. Vielleicht hat einmal ein Tourist ein Souvenir neben dir abgestellt, daß er am Anfang ganz toll gefunden und durch das halbe Kaufhaus geschleppt hatte. Dann war es mit einem Male nicht mehr so prickelnd und schließlich stand eine Schneekugel mit dem Brandenburger Tor oder ein Trabi mit einem garantiert echten Mauerstein neben dir. So war es zumindest einem kleinen Stoff-Orang-Utan ergangen. Aus dem Kaufhaus befreit ging es nämlich schnurstracks nach Bayern und so war Zindy zwar aus Berlin, aber sie kannte nichts von Berlin. Nach fast zwei Jahren wollten Kisha und Nina mal wieder ihre Freundin Stefanie, die ja in Berlin wohnte, besuchen und das war für Zindy die Gelegenheit dies zu ändern.
Die Hinfahrt in Kishas kleinem Auto war recht kurzweilig und soweit ohne besondere Ereignisse. Man hörte richtig laut Musik und aß dazu richtig viele Schokoladenkekse. Gut, auf der Höhe der Raststätte Hirschberg fuhren sie kurz neben einem Auto, das Zindy zu kennen glaubte. Sie sah auf den Rücksitz und da war er tatsächlich wieder: Der etwas dumm dreinblickende Junge.
Er tippte wie verrückt auf irgendeiner Spielekonsole herum. Nur einmal sah er auf und schaute direkt zu ihr. Entsetzt riss er die Augen weit auf und starrte sie sekundenlang an. Dann blickte er wieder auf seine Konsole. Er sah nicht noch einmal auf, aber Zindy bemerkte, wie er leise vor sich hin flüsterte. „Nein, ich sehe keinen Stoffaffen.“ Und dann war das Auto auch schon an ihnen vorbei.
Berlin selbst empfing Zindy mit strahlendem Sonnenschein bei angenehm warmen Temperaturen. Während die drei Freundinnen überlegten, was sie die nächsten Tage alles unternehmen sollten, war das kleine Stoff-Orang-Utan-Mädchen schnell fertig. Sie wollte alles sehen. Dann gab sie sich aber doch mit dem Programm von Kisha, Nina und Stefanie zufrieden.
Schon der Weg dorthin versprach spannend zu werden. Kishas Auto war brav geparkt worden. Stattdessen hatte Stefanie Fahrkarten für den Nahverkehr besorgt. Für Zindy hieß das, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben U-Bahn fahren würde.
U-Bahn – schon das Wort fand Zindy cool. Züge, die unter der Erde fahren. Sicher in Kishas Rucksack ging es ewig lange Rolltreppen hinunter, wobei der kleine Stoff-Orang-Utan gerne das Laufband herunter geschlittert wäre, aber irgendwie waren ihr doch zu viele Menschen da. Nicht das sie noch verloren ging!
Die unterirdischen Züge waren toll. Die Türen gingen automatisch auf und zu und man durfte anscheinend alles bunt bemalen. Man konnte viele verschiedene Musikrichtungen hören und von einer Frau wusste Zindy jetzt, daß sie statt mit ihrem Mann mit ihrem Yogalehrer Torben-Emmanuel in den Urlaub fahren würde. Offiziell war sie jedoch mit ihrer besten Freundin Dagmar zum Wellness für ein verlängertes Wochenende in den Bergen.
Ehe sie die U-Bahn wieder verließen lernte Zindy noch einen netten älteren Herrn kennen. Der wollte ihre Fahrscheine sehen und ihr fiel siedend heiß ein, dass sie gar keinen besaß. Sie wollte sich blitzschnell in den Rucksack zurückziehen, aber er hatte sie schon entdeckt.
„Stoffaffen fahren bei uns umsonst mit“, sagte er lachend zu den Mädchen. „Aber jehn se mal mit dem Kleenen in Zoo zu seine Kumpels!“
Zindy klärte ihn nicht auf, dass sie eigentlich ein Mädchen war. Vielleicht sah er ja nicht mehr so gut.
Der Zoologische Garten stand allerdings erst später auf dem Programm. Zunächst ging es ins Regierungsviertel und zum Brandenburger Tor.
Vor dem Reichtagsgebäude standen viele Polizisten, die aufpassten, dass niemand die Kanzlerin beim Regieren störte. Zindy fand das in Ordnung, denn die musste sich ja schließlich um ein ganzes Land kümmern. Aber ganz kurz hätte sie schon mal zum Winken herauskommen können. Oder machten das nur Königinnen?
Die fünfhundert Meter bis zum Brandenburger Tor gingen sie zu Fuß. Erst wurde es bestaunt und dann schossen die drei Freundinnen ausgiebig Selfies. Zindy nutzte die Zeit um mal kurz nach oben zu klettern. In sechsundzwanzig Metern Höhe auf dem linken Flügel des Adlers sitzend hatte sie einen hervorragenden Blick über die Umgebung. Lustigerweise gesellte sich auf dem rechten Flügel ein Stoff-Schneeaffe dazu, der aus dem Rucksack eines Japaners ausgebüxt war. Da Zindy kein Japanisch und der Schneeaffe kein Deutsch konnte, grinsten sie sich nur breit an. Dann sagte der Schneeaffe „I am a tourist.“ Und Zindy antwortete mit einem höflichen „Sänk ju!“ und schon kehrten beide flugs zu ihren Menschen zurück.
Wohin der Schneeaffe danach verschwand, wusste Zindy nicht. Sie jedoch durfte wieder U-Bahn fahren und besichtigte so nacheinander die Mauergedenkstätte, die Museumsinsel, den Fernsehturm und die Gedächtniskirche. Das war ziemlich viel Kultur für einen kleinen Stoff-Orang-Utan. Die Bootsfahrt an der Museumsinsel war dabei noch das Beste. Die Kirche war ihr zu kaputt und der Fernsehturm doch etwas zu hoch.
Mehr Spaß versprach da schon der nächste Tag. Sie fuhren zwei Stunden lang im offenen Bus kreuz und quer durch Berlin. Sie kamen dabei sogar an dem wirklich großen Kaufhaus vorbei. Zindy erkannte es sofort und war froh, dass der Bus vor ihm nicht anhielt. Da wollte sie bestimmt nicht rein, aber sie winkte kurz. Wer weiß, vielleicht sah ja gerade eines der anderen Stofftiere zum Fenster raus.
Zindys Gruppe verließ den Bus erst vor einem großen Tor, das von zwei Elefanten getragen wurde. Dahinter befand sich der Berliner Zoo mit neunzig neun neunundneunzig Tieren. Da gab es lustige Fische, furchteinflößende Spinnen, Löwen, Tiger, Giraffen und sogar Pandas. Es war als wären alle Stofftiere aus der Stofftierfabrik und den Kaufhaus zugleich abgehauen und hätten sich hier versammelt. Es gab sogar Orang-Utans.
Zindy starrte ihre Artgenossen lange an. Kisha hielt sie sogar ganz nahe an den Käfig. „Schau, Zindy. Deine Freunde“, lachte sie. „Na, willst du mal rein?“
Gottseidank war das nur als Scherz gedacht. So viel Unordnung wie in dem Käfig hatte sie noch nie gemacht. Alles lag wild durcheinander und keinen schien es zu stören. Nee. Davon abgesehen gab es zwar viel Obst zu essen, aber Zindy entdeckte nicht einen einzigen Schokoladenkeks. Sie wollte schon wo rein, aber das war wieder in den Rucksack.
Das viele Schauen hatte alle nämlich ziemlich hungrig gemacht. Stefanie schlug vor ein Original Berliner Pfannkuchenhaus zu besuchen und schon saß man wieder in der U-Bahn. Genau wie Kisha und Nina unterlag Zindy allerdings einem Irrtum. Sie kannten Pfannkuchen, doch in dem Haus gab es nicht das, was in Bayern gemeinhin unter Pfannkuchen verstanden wurde.
„Das sind doch keine Pfannkuchen“, stellte Kisha dann auch erstaunt fest als sie den Laden betraten. „Das sind Krapfen.“
Nina lief bereits das Wasser im Mund zusammen. „Meine Mutter nennt sie Berliner und ich glaube ich nehme ein gemischtes Dutzend von den kleinen.“ Sie schleckte. „Was für eine Auswahl!“
Sich zu entscheiden war wirklich schwer. Es gab einfache und welche mit Marmelade, Sahne oder Pudding gefüllt. Ohne oder mit Glasur. Beschrieben. Mit Gesichtern. Schokostreusel. Kleine Früchte. Sogar Gummibärchen.
Letztendlich entschieden sich die Freundinnen für sechs große und zwölf kleine Pfannkuchen. Sie suchten sich einen gemütlichen Ecktisch und während die drei noch darüber diskutierten, ob das jetzt ein Berliner, ein Krapfen oder ein Pfannkuchen war, biss Zindy bereits herzhaft in einen mit Erdbeer-Pudding-Füllung.
Lies gleich weiter: "Zindy und der geheime Raum"