Zindy liebt die Nacht
Mit jedem weiteren Schritt wurde alles kleiner. Kishas Auto auf dem Parkplatz schrumpfte so nach und nach auf Erbsengröße. Danach schrumpfte der Parkplatz und die Häuser auf Erbsengröße und dann war das Ganze nur noch das Tal. Aber nicht mit jedem Schritt von ihr. Nein, Zindy lugte quietschvergnügt aus der Seitentasche eines ansonsten recht vollgepackten Rucksacks und schaukelte dort im Takt zu Kishas Schritten. Und das ganz offiziell.
Hierher gekommen waren sie wie das eben immer so ist. Ihr kennt das ja. Man kennt jemanden, der jemanden kennt und von dem die Eltern besitzen eine kleine Berghütte. Nun, Hütte ist etwas untertrieben. Ferienhaus trifft es wohl besser.
In unserem Fall stand dieses Berghüttenferienhaus im Allgäu. Auf einer einfachen Zufahrtsstraße konnte man es mit dem Auto erreichen. Doch damit waren heute nur die Lebensmittelvorräte hochgebracht worden. Die acht jungen Menschen, die hier gemeinsam das Wochenende verbringen wollten, zogen es vor in knapp zwei Stunden zu der Hütte zu wandern.
Beim Packen ihres Rucksacks hatte Kisha zum Schluss ganz selbstverständlich den kleinen Stoff-Orang-Utan in die Seitentasche gesteckt. „Eine echte Bayerin muss auch mal in die Berge!“ hatte sie gesagt und Zindy an der Nase gestupst. „Und irgendwie bist du ja eh immer dabei egal, ob ich dich einpacke oder nicht.“
So waren sie jetzt also unterwegs. Während des Aufstiegs wurde viel gelacht und herumgealbert und Zindy genoss es in vollen Zügen. Niemand störte sich daran, daß sie dabei war. Eines der anderen Mädchen trug sogar ganz offen ein pinkfarbenes Schlafkissen mit auf den Berg. Mit eingestickten Einhörnern. Wobei Zindy fand, daß der Vergleich ziemlich hinkte. Sie war schließlich ein Stofftier und das nur eine gewöhnliche Kopfablagegelegenheit.
Mehr Aufmerksamkeit schenkte Zindy dem Kissen nicht. Dazu war sie viel zu aufgeregt. Sie wollte schließlich nichts versäumen. Aus den Gesprächen von Kisha und Nina wusste sie, daß es heute Abend noch ein Lagerfeuer geben sollte und morgen alle ganz früh aufstehen wollten um sich gemeinsam den Sonnenaufgang anzusehen. Der kleine Stoff-Orang-Utan hatte vorsichtshalber die halbe letzte Woche viel vorgeschlafen um jetzt für alles fit zu sein. Beides hatte sie nämlich noch nie gesehen und sie wollte deshalb beides auf keinen Fall versäumen.
Am späten Nachmittag erreichte die Gruppe die komfortable Hütte- Nach einer kurzen Diskussion bezog man die Zimmer. Kisha teilte sich – wie konnte es auch anders sein – ein Zimmer mit Nina. Wie alle anderen Schlafzimmer befand es sich im Obergeschoß und verfügte über einen Zugang zu einem Balkon, der sich rings um die ganze Hütte erstreckte.
Während sich die Mädchen noch einrichteten fanden unten bereits die ersten Vorbereitungen für das Lagerfeuer statt. Holz wurde gesammelt und in einer mit Sand und Steinen gesicherten Feuerstelle aufgeschichtet. Bald kam ein Tisch dazu, auf dem neben Gläsern, Tellern und Besteck auch Schüsseln mit Salat, etwas Obst sowie Kartoffeln, Brot und Würstchen Platz fanden und natürlich dürften auch Getränke und ein paar Tüten Chips nicht fehlen. Rund um die Feuerstelle wurden Gartenstühle, teils mit Decken, aufgestellt und einer der Jungs stellte sogar noch einen Kinderstuhl „für dieses kuschelige Stoffteil“ dazu.
So nach und nach trudelten alle unten ein und dann wurde das Feuer angezündet.
Es dauerte ein paar Minuten bis es fröhlich brannte. Während dieser Zeit wurden Stecken angespitzt und Würstchen, Brot und Obst darauf gespießt. Unten in die Glut wurden in Folie gewickelte Kartoffeln gelegt. Oben hielten die acht Freunde ihre Spieße übers Feuer und plauderten dabei lustig durcheinander. Wie üblich fiel ein Würstchen ins Feuer und eine Brotscheibe wurde so lange übers Feuer gehalten bis sie schwarz war, was niemand weiter störte.
Als die Gruppe schließlich mit dem Essen fertig war, war es längst dunkel geworden. Einer der Jungs holte eine Gitarre aus dem Haus und begann zu spielen.
Zindy in ihrem Gartenstuhl war selig. Kisha hatte auch an sie gedacht und ihr einen bunt zusammengestellten Grillteller gebracht. Dass es sich dabei um Reste handelte, die Kisha selbst nicht mehr geschafft hatte, wusste Zindy ja nicht. Der Teller war direkt neben sie gestellt worden. Ihr Gartenstuhl - ihr Essen.
Gut, die zwei Bananenstückchen waren ziemlich knusprig und Wurst aß sie überhaupt nicht, aber die Ananasscheibe war perfekt.
Die acht Freunde stimmten ein Lied nach dem anderen an. Zindy lutschte an ihrer Ananasscheibe und summte leise mit. Eigentlich kannte sie kein einziges Lied, aber sie summte so leise, daß es keinem auffiel, wenn mal ein Ton falsch war, und so wirklich besser sangen die anderen in ihren Augen auch nicht.
Zindy hätte noch stundenlang so weitersingen können, doch dann fand jemand, daß es jetzt Zeit für eine Gruselgeschichte war.
Ins Feuer wurden noch ein paar Holzscheite gelegt. Die Gitarre durfte zurück in die Hütte. Dafür wurden die Gartenstühle enger zusammengeschoben. Jemand hielt sich eine eingeschaltete Taschenlampe unters Kinn und begann dann mit tiefer Stimme zu erzählen.
Die Geschichte handelte von einer Gruppe Jugendlicher, die sich in einer Vollmondnacht im Wald verirrten.
„In einer Vollmondnacht wie heute“, betonte der Erzähler, „und ihr wisst, was da passiert: Werwölfe!“
Alle lauschten zunächst gespannt, alberten aber bald herum und erschreckten sich gegenseitig. Nur Zindy war so angespannt und auf den weiteren Verlauf der Geschichte fixiert, daß sie vor lauter Aufregung in das Würstchen biss. Sie spuckte den Bissen in demselben Moment aus, in dem eines der Mädchen einen erschrockenen Schrei ausstieß. Wie bei Gruselgeschichten so üblich hatte sich jemand heimlich vom Feuer weggeschlichen um ihr dann von hinten an die Schulter zu fassen. Nur das Wurststückchen in ihrem Mund, das in hohem Bogen durch die Luft flog, verhinderte, daß Zindy mitschrie.
Natürlich war danach an eine Fortsetzung der Geschichte nicht mehr zu denken. Die Gruppe ließ das Feuer runterbrennen, räumte noch etwas auf und dann gingen alle ins Bett.
Kisha und Nina schliefen bald tief, aber Zindy brauchte lange zum Einschlafen und dann wachte sie immer wieder besorgt auf. Nicht, daß man sie nicht mitnahm und sie so den Sonnenaufgang verpasste. Die Nacht war schon weit fortgeschritten als das Orang-Utan-Mädchen beschloss, nicht darauf zu warten, daß man sie nicht vergaß. Unbemerkt schlüpfte sie durchs offene Fenster auf den Balkon. Sie turnte sich auf das Holzgeländer hoch, lehnte sich gegen einen der dicken Holzbalken und sah in die Nacht hinaus.
Der Mond hatte seine Reise über den Nachthimmel schon fast vollendet. Bald würde im Osten, wo man die Berge schon leicht erahnen konnte, die Sonne aufgehen. Die kleine Lichtung vor der Hütte glitzerte silbern im letzten Mondlicht. Langsam ließ Zindy ihren Blick von links nach rechts gleiten. Alles friedlich. Nichts bewegte sich. Doch halt! Was war das?
Zwischen den Bäumen am Waldrand trat vorsichtig schnuppernd ein Tier heraus. Prüfend hob es den Kopf und sah mehrmals in alle Richtungen. Dann machte es ein paar Schritte ins Freie und begann zu fressen. Nur wenige Sekunden später folgten ihm zwei deutlich kleinere Tiere, die sich eng an das erste hielten. Von ihrem Aufenthalt in der Stofftierfabrik wusste Zindy sofort, daß sie Rehe vor sich hatte. Eine Ricke mit ihren zwei Kitzen nutzte den frühen Morgen für eine ungestörte Mahlzeit.
Zindy beobachtete fasziniert die friedlich äsenden Tiere. Sie hätte ihnen noch lange zusehen können. Doch plötzlich hob das Muttertier den Kopf und binnen Sekunden waren alle drei wieder im Wald verschwunden.
Jetzt hörte es auch Zindy. Jemand war leise zu ihr auf den Balkon getreten und lehnte sich nun ebenfalls gegen den Holzbalken. Ihr vertraute Hände hoben sie hoch.
„Wie kommst du denn hier raus?“ Kisha sah sie verschlafen an. „Nina? Warst du das?“ fragte sie nach hinten.
„Ich war nie was und bin im Zweifelsfall immer unschuldig“, gähnte Nina und stellte sich neben sie.
Langsam füllte sich der Balkon, denn auch aus den anderen Zimmern tauchten weitere Frühaufsteher auf. Eine brachte sogar ein Tablett mit einer Kanne mit heißem Tee und Tassen mit. Zum Teil in wärmende Decken gehüllt standen alle da und blickten gen Osten. Das erste Rot kündete sie an und dann sahen neun Augenpaare die Sonne über den Bergen aufgehen.
Diese Geschichte ist dem Schriftsteller Ray Bradbury gewidmet.
Lies bald weiter: "Zindy will auch Grippe haben"