Zindy besucht Oma Charlotte
Wer Oma Charlotte kannte wusste, daß sie nicht ganz gewöhnlich war. Sie besaß jede Menge T-Shirts mit Aufdrucken wie „Punk is not dead“ oder „Ein Stofftier – ein Mensch“ und sie trug diese auch alle. Sie hatte nichts gegen Tätowierungen, auch wenn sie sich selbst keine stechen lassen würde. Und sie zog ein Rockkonzert jedem Wellnesswochenende vor. So manch einer störte sich daran und empfahl ihr, sich mehr ihrem Alter entsprechend zu verhalten. Sie sei schließlich eine Großmutter.
Zindy war das alles ziemlich egal. Konservativ oder flippig? Ob sich Oma Charlotte morgen die Haare grün färbte oder einen Japanischkurs belegte, war nicht wichtig, und Kleidung brauchten die Menschen nur aus einem Grund: Ihnen fehlte ein vernünftiges Fell.
Wieder einmal waren alle bis auf Oma Charlotte seit Stunden bei der Arbeit oder in der Schule. Zindy war deshalb etwas langweilig. Zuerst hatte sie noch versucht Gerome für einen Kletterwettbewerb zu gewinnen, aber das schwarze Stoffschaf war zu träge dazu. Gerome wollte lieber Sofakissen spielen. Also dekorativ herumliegen und abwarten wie ein Sonnenstrahl über einen hinweg zog.
Lustlos balancierte Zindy auf dem Fenster entlang als sie plötzlich etwas hörte. Von unten drang durchs offene Fenster Musik zu ihr herauf. Dazu hörte man jemand singen.
„Oma Charlotte“, schoss es Zindy durch den Kopf und, weil sie die Musik gut fand, beschloss sie ihr einen Besuch abzustatten. Dummerweise konnte sie dazu jedoch nicht so einfach zur Tür hereinspazieren.
„Zur Tür vielleicht nicht, aber durchs Fenster“, schlug Gerome vor und Zindy hielt das für gar keine schlechte Idee.
Vom Wohnzimmerfenster aus war sie schon einmal über die Regenrinne auf die Terrasse geklettert. Alles was sie danach noch brauchte war ein offenstehendes Fenster. Keine zwei Minuten später stand sie auch schon unten.
Hier war die Musik deutlich lauter. Über einen der Stühle turnte Zindy auf den Gartentisch um sich einen besseren Überblick zu verschaffen.
Die Tür ins Knirpssche Wohnzimmer war logischerweise geschlossen, aber nur zwei Meter weiter stand ein Fenster wagenweit offen. Aus dem Stand hätte der kleine Stoff-Orang-Utan das Fensterbrett nie erreicht. Jemand war jedoch nach dem letzten Kehren der Terrasse zu faul gewesen den Besen wegzuräumen und hatte ihn stattdessen einfach an die Hauswand gelehnt. Praktisch für Zindy, die so problemlos aufs Fensterbrett gelangen konnte. Fürs Erste hielt sie sich am Rand versteckt und spähte von dort vorsichtig ins Zimmer.
Direkt vor ihr stand ein gemütlicher Sessel, rechts daneben ein kleines Tischchen mit zwei gerahmten Fotos. Eines zeigte eine jüngere Oma Charlotte mit einem attraktiven Mann. Auf dem anderen war ein Sänger zu sehen. „Charlotte, you rock. Love David“ hatte jemand draufgeschrieben. An der anschließenden Wand folgte ein Sofa. Links von ihr befand sich eine Wohnwand mit Fernseher und ihr gegenüber war eine kleine Küchenzeile sowie ein Tisch mit zwei Stühlen. Zweifelsohne blickte sie gerade in Oma Charlottes Wohnküche.
Im Türrahmen neben der Küchenzeile tauchte fröhlich singend Oma Charlotte auf. Sie trug ein großes Brett mit Füßen in den Raum. Zindy stellte sich sofort tot. Sie ließ sich nach vorne fallen und lag nun halb auf dem Fensterbrett und halb auf der Rückenlehne des Sessels. Bequem war anders, aber Stofftierregel ist Stofftierregel.
Oma Charlotte platzierte ihr Bügelbrett mitten im Zimmer. „Vielleicht noch etwas näher zum Sessel“, murmelte sie vor sich hin. „Dann kann ich eine DVD einlegen. Damit bügelt es sich bedeutend schneller.“ Sie schob das Brett näher zu ihrem Fernsehsessel und entdeckte dabei Zindy.
„Na, wo kommst du denn her?“ Sie nahm das Orang-Utan-Mädchen in die Hand, streckte den Kopf aus dem Fenster und sah nach oben. „Sonderbar. Die sind doch alle ausgeflogen. Und so einfach von alleine aus dem zweiten Stock hier reinfallen ist nicht wirklich möglich.“ Sie sah Zindy nachdenklich an. „Na egal. Wo du schon mal da bist, hol ich Bruno und wir machen es uns zu dritt nett. Ich schreibe Kisha einen Zettel. Die kann dich dann später abholen.“
Sie setzte Zindy in den Sessel, verschwand kurz und kehrte mit einem in die Jahre gekommenen Teddybären zurück. Sie setzte ihn neben den Stoffaffen. „Zindy ist heute zu Besuch bei uns, Bruno. Du beschwerst dich doch immer, daß du so alleine bist. Ihr könnt inzwischen quatschen bis ich alles vorbereitet habe.“
Oma Charlotte schaltete das Radio aus. Sie war schon fast aus dem Zimmer, da drehte sie sich noch einmal um. „Das ihr mir keinen Unfug macht!“ Und weg war sie.
Zindy sah Bruno an. Er wirkte gemütlich, doch eine lange Narbe zeugte davon, daß er wohl schon so einiges erlebt hatte.
„Wohnst du schon lange hier?“ fragte sie vorsichtig.
„Ich bin 74 Jahre alt“, war die nicht ganz logische Antwort.
Zindy hätte ihn eher auf achtzig neun siebenunddreißig Jahre geschätzt und wer so alt war, hatte bestimmt keine Lust auf dem Sessel zu hüpfen. Dagegen war Gerome ja eine Rakete.
Wieder herrschte Schweigen.
„Sie ist nett“, brummte er schließlich. „Ausgeflippt, aber nett. Und sie kümmert sich gut um einen. Hier hat sie mich mal genäht.“ Er zeigte stolz auf die Narbe. „Nicht aufgepasst. In die Säge gekommen- Fünfzehn Stiche.“ Dann schwieg er wieder.
Zindy fiel nichts mehr ein. Zum Glück kam Oma Charlotte bald darauf zurück. Sie legte einen Stapel nicht gebügelter Wäsche aufs Sofa. Obenauf lag eine DVD, die flugs im Player verschwand. Sie schaltete das Gerät ein und drehte sich mit einem Sprung zu den beiden. „Tataaa“, sang sie. „Und wer hat hier das beste Outfit? Ja wohl ich.“ Sie deutete auf ihr T-Shirt. „David Bowie – A Reality Tour“ stand darauf zu lesen. „Mein Richard ist damals extra mit mir nach Frankfurt gefahren“, erklärte sie Zindy und blickte zu dem Tischchen mit den Bildern. „Und jetzt lachen die beiden bestimmt gemeinsam über mich.“ Seufzend startete sie die DVD und nahm sich das erste Kleidungsstück. „Aber jetzt los!“
Danach hätte man meinen können man befände sich im Zimmer eines Teenagers. Oma Charlotte korrigierte die Lautstärke der Musik noch etwas nach oben. Dann wurde ein Kleidungsstück nach dem anderen vom Sofa zum Bügelbrett getanzt, schwungvoll bearbeitet und auf dem Küchentisch in verschiedene Stapel sortiert.
Zindy blieb zunächst brav neben Bruno sitzen.
„Bowie mag ich“, brummte der irgendwann und wippte leicht mit dem Fuß.
Da hielt es auch Zindy nicht mehr. Zuerst wippte auch sie nur. Dann wackelte der Unterkörper ein bisschen hin und her und schließlich rockte sie genauso ab wie Oma Charlotte am Bügelbrett.
Immer mit einem Auge darauf achtend, daß die es nicht bemerkte, hüpfte sie wild auf dem Sessel herum, rutschte auf Knien zwischen den Bildern von Opa Richard und David Bowie über das kleine Tischchen oder versuchte einfach nur cool dazustehen, wobei ihr ein vergessener Teelöffel als Mikrofon diente.
Fast zeitgleich mit dem Ende des Konzerts war auch Oma Charlotte mit dem Bügeln fertig. Sie räumte Wäsche und Bügelbrett weg, holte sich eine Tasse Kaffee und stellte noch einen Teller mit Keksen auf das Tischchen.
Im Fernsehen lief inzwischen eine Dokumentation über die bayerischen Königsschlösser. Eigentlich interessierte Oma Charlotte diese Sendung, aber sie nickte immer wieder weg. Kleine Pausen, die Zindy nutzte um schnell in den einen oder anderen Keks zu bei0en.
„Da bin ich wohl etwas eingeschlafen“, stellte sie belustigt fest als sie wieder einmal aufwachte. „Na, ein kleines Nickerchen habe ich mir schon verdient.“ Dann nahm sie sich einen Keks. Sonderbarerweise sah der aus als hätte eine Maus an ihm geknabbert.
„Hat da jemand heimlich an meinen Keksen genascht?“ Oma Charlotte zwinkerte Zindy verschmitzt zu.
Zindy zwinkerte zurück. Aber nur ganz leicht, so daß Oma Charlotte es nicht bemerkte.
Die war schon wieder eingenickt und auch Zindy war plötzlich furchtbar müde. Bruno neben ihr schnarchte eh bereits seit einigen Minuten. Sie gähnte herzhaft und kuschelte sich an ihn.
So verschliefen die drei gemeinsam den Nachmittag und so fand Kisha sie auch vor als sie Zindy am Abend abholen kam.