Zindy lädt zum Kaffeeklatsch
Einmal alle vier Wochen fielen sie bei Oma Charlotte ein. Für gewöhnlich war das an einem Dienstagnachmittag gegen fünfzehn Uhr. Drei ältere Damen trafen nach und nach vor dem Haus ein und gingen den gepflasterten Weg an der großen Haustür vorbei zu der kleinen Einlegerwohnung, in der Kishas Großmutter wohnte.
Üblicherweise tauchte zuerst Gerda auf ihrem knallroten Hollandfahrrad auf. Meist hörte man sie schon von weitem, denn sie warnte jeden mit einer altmodischen Hupe, daß sie kam. Die Hupe war recht laut und oft hupte sie auch nur einfach so, weil es ihr Spaß machte.
Dicht gefolgt wurde sie von Liliana in einem alten klapperigen Käfer. Der wurde dann halb in irgendeiner Einfahrt geparkt. Das Schild „Großmutter im Dienst“ an der Windschutzscheibe belegte, daß zu mehr einfach nicht Zeit gewesen war.
Zuletzt fand sich immer Daisy ein, was kein Wunder war, hatte sie doch mit fast dreihundert Metern einen wirklich langen Fußweg. Daisy hieß eigentlich Dietlinde, aber das war ihr schon ewig zu langweilig. Es gab bestimmt einige, die gar nicht wussten, daß Daisy nicht ihr richtiger Vorname war.
Seit Jahren fand diese Zusammenkunft jeden Dienstag abwechselnd bei einer der vier Frauen statt und heute war wieder einmal Oma Charlotte an der Reihe die Gastgeberin zu geben. Der Tisch in ihrer Wohnküche war bereits liebevoll gedeckt. Papa Daniel und Niklas hatten ihn etwas weiter ins Zimmer gerückt und noch zwei zusätzliche Stühle aus dem Knirpsschen Esszimmer dazugestellt, so daß alle vier Damen bequem Platz fanden. Die Kaffeemaschine lief, ein Krug mit Saft stand bereit und Oma Charlottes berühmter Käsesahnekuchen duftete herrlich. Sie legte noch ein paar Servietten dazu und versah jeden Platz mit der jeweiligen Lieblingstasse ihrer drei Freundinnen.
Zindy hatte natürlich längst mitbekommen, daß bei Oma Charlotte heute Nachmittag etwas Ungewöhnliches vorgehen würde und sich deshalb während des Stuhltransports nach dem Mittagessen klammheimlich in deren Wohnung geschlichen. Sie hatte die Teller und Tassen auf dem Tisch entdeckt und sich kurzerhand neben Bruno gesetzt. Den hatte Oma Charlotte in ihrem Fernsehsessel platziert, damit er auch etwas mitbekam.
Der kleine Stoff-Orang-Utan hatte den Teddybären fragend angesehen.
Der hatte nur etwas von „Kaffeeklatsch“ und „Nichts besonderes“ gebrummt. Damit war für ihn alles gesagt. Ganz offensichtlich wusste er Bescheid.
Nicht so Zindy. Obwohl das kleine Stoff-Orang-Utan-Mädchen den Bären weiter anstarrte, war aus dem nichts herauszubringen. Im Gegenteil. Er schmatzte nur und gähnte dann ausgiebig, was ein Zeichen dafür war, daß er gleich ein Nickerchen halten würde. Da im Augenblich auch sonst nichts weiter geschah, gab sie irgendwann schließlich auf und tat es dem stumm und regungslos dasitzenden Bären gleich.
So vergingen bestimmt zehn Minuten und ihr wurde immer langweiliger und langweiliger. Sie war schon fast am Wegdösen. Ihr Kopf sank im Zeitlupentempo nach vorne. Da läutete jemand an der Türglocke und sie war mit einem Schlag hellwach.
Oma Charlotte verschwand kurz und brachte bei ihrer Rückkehr eine spitzbübisch grinsende, ältere Dame in die Wohnküche mit. Die legte einen quietschrosanen Fahrradhelm ab und winkte im Vorbeigehen dem Stoffbären freundlich zu. „Ah, Bruno hat auch Besuch!“
Oma Charlotte stutzte nur kurz. „Das ist Zindy. Sie gehört eigentlich meiner Enkelin Kisha. Bestimmt hat ihr Bruder das Äffchen heimlich dorthin gesetzt. Schon so erwachsen, der Herr, und doch noch so albern.“
Schon läutete es wieder an der Tür und binnen zehn Minuten war die Runde komplett. Jede der Damen nahm ihren Stammplatz ein. Oma Charlotte verteilte Kuchen und Kaffee und Daisy schnitt wie so oft etwas von ihrem Kuchenstück ab, legte es auf eine Untertasse und stellte dann das Ganze vor Bruno ab. Nicht dass der jemals etwas davon gegessen hätte. Dazu war er nach Ansicht der Damen wohl viel zu schüchtern. Davon abgesehen schlief er seit fünfzehn Minuten tief und fest.
Dann wandte sich die Runde dem neuesten Klatsch und Tratsch zu. Wer wann wo was mit wem getan oder auch nicht getan hatte und was er oder sie dabei getragen hatte. Die lieben Enkel und die manchmal etwas sonderbaren Kinder. Angebote im Supermarkt und in der Apotheke. Der neue junge Assistenzarzt in der Hausarztpraxis. Strickmuster und Yogakurse wurden ebenso durchdiskutiert wie eine Demonstration für mehr Tierwohl oder die Vorschläge des Stadtrates zu Kürzungen im Fahrplan der Stadtbuslinien. Nichts und niemand war vor ihnen sicher, wobei sie nie böse, aber immer treffend lästerten.
Auch Zindy hätte gerne etwas erzählt. Aber erstens konnte sie sich bei all dem, was sie schon erlebt hatte, nicht entscheiden, welches Abenteuer ihr liebstes war. Zweitens wusste sie nicht, ob sie die Damen damit nicht verschreckte. Die waren ja schon ziemlich alt und eine nahm sogar Herztropfen. Und drittens gab es ja auch noch die Stofftierregeln und Regel 2 besagte, daß man nicht vor den Menschen sprechen durfte. So schwieg sie.
Dafür erfuhr sie Unmengen an neuen Dingen über ihre Nachbarn. Nur zu dumm, daß sie die meisten von denen gar nicht kannte. Trotzdem war es so spannend, daß sie gar nicht merkte wie sie vor lauter Hinhören immer wieder in Brunos Kuchenstück biss. Es war nicht mehr zu übersehen, daß es bereits um einiges kleiner geworden war.
Oma Charlotte war die erste, der es auffiel. Sie wollte gerade für Gerda, die heute über Rückenschmerzen klagte, ein Wärmekissen holen. Ihr Blick streifte dabei die beiden Stofftiere und das Kuchenstück auf der Untertasse.
Es war angeknabbert.
Sie sah zu Liliana. Die war vorhin kurz aufgestanden, weil es draußen gehupt hatte und sie wohl fürchtete, dass ihr heißgeliebtes Auto jemandem im Wege stand. Das hatte sie zumindest gesagt. Oma Charlotte hielt es für eine Ausrede. Dazu hätte sie nicht den ganzen Kaffeetisch umrunden müssen. Bestimmt wollte sie nur Daisy einen Streich spielen. Oma Charlotte zwinkerte Liliana lustig zu, was heißen sollte, daß ihr Geheimnis bei ihr in guten Händen war.
Als Gerda das beschädigte Stück entdeckte, hatte sie sofort Oma Charlotte in Verdacht. Die hatte schließlich ein Kissen geholt. Daisy glaubte an Gerda, weil die immer so unschuldig tat. Und Liliana traute Daisy alles zu. Keine der Frauen sagte offen etwas, aber alle nickten ihrer Favoritin wissend zu.
Zwei Stunden später war von dem Kuchen nur noch ein kleines Reststück übrig. Alle waren mit drei Tassen Kaffee an ihrem Limit angelangt. Noch immer schwatzend räumten sie gemeinsam das Kaffeegeschirr in die Spülmaschine. Daisy vergaß dabei auch die Untertasse nicht, auf der nur noch knapp die Hälfte des ursprünglichen Kuchenstückes lag.
„Ich habe ja stark dieses neue Stoffäffchen im Verdacht“, sagte sie zu den anderen.
Zindy hätte sich fast verschluckt, zog eiligst die Backen ein und schielte entsetzt auf die verräterischen Krümel auf ihrem Bäuchlein.
„Ach, mach dich doch nicht lächerlich, Daisy“, schüttelten die anderen den Kopf. „Zum Schluss packst du ihm den Rest noch ein, damit es ihn mit nach oben zu Kisha nehmen kann.“
Proviant? Ein Häppchen für Gerome? So oder so, Zindy fand die Idee gar nicht schlecht.