Zindy baut ein Baumhaus
Der Tisch im Esszimmer war zwar praktisch und für alle schnell zu erreichen. Obendrein gab es dort meistens Kekse oder Obst. Aber cool, cool war anders. Besonders wenn es um das Hauptquartier der Gäng ging. Zindy war daher schon lange am Überlegen, hatte aber noch keine wirklich gute Idee gehabt. Kishas Sofa war wegen der vielen Treppenstufen für den alten Bruno schwer zu erreichen. In Niklas Zimmer war oft ein rechter Saustall. Im Keller fürchtete sich Malaika und diese neue Raupe wollte ständig an die frische Luft.
Zindy schwang von einem Zimmer zum anderen, begutachtete leere Kisten, Wäschekörbe und Mama Kathrins Kuscheldeckenlager und suchte beim Blick aus jedem Fenster nach Möglichkeiten. Vieles sah sie da draußen, aber leider war so gut wie alles davon für sie nicht praktikabel. Ein Kinderspielhaus hatten die Knirpse schon lange nicht mehr in ihrem Garten, ebenso wenig ein Zelt und die Hundehütte aufzusuchen wäre ein Selbstmordkommando. Die haarigen Monster würden ein Stofftier bestimmt reinlassen um es dann liebevoll in seine Einzelteile zu zerlegen.
Zindy hüpfte am Wohnzimmertisch vorbei und schlenkerte dabei lustlos mit den Armen. Ungewollt verschob sie dabei einen Stapel Zeitschriften, der auf einem unter der Tischplatte angebrachten Ablagefach lag. Der ordentliche Haufen geriet gehörig durcheinander. Die oberste Zeitschrift rutschte gar zu Boden.
Der kleine Stoff-Orang-Utan bremste ab um das Chaos zu beheben. Mit Händen und Füßen zerrte und schob sie an den Zeitschriften bis die wieder einigermaßen gerade aufeinander lagen. Dann ging sie das heruntergerutschte Heft an.
Zu schwer war die Zeitschrift nicht wirklich, aber sehr widerspenstig. Zweimal hatte Zindy sie schon fast oben. Sie schaffte es aber jedes Mal wieder auf den Boden zurückzugleiten. Beim zweiten Mal fiel sie gar so unglücklich, daß sie sich obendrein noch aufschlug. Was mit Königs, dachte Zindy und wollte sie wieder zuschlagen, als ihr Blick auf der Doppelseite hängenblieb. Nichts mit wer mit wem oder Mode oder Kochen war zu sehen. Nein, sie hatte die Heimwerker- und Bastelseite erwischt. Sonst stand da oft wie man Fliesen verlegte oder Autoreifen wechselte, doch heute ging es um etwas Sinnvolles: Wie baue ich ein Baumhaus.
Ein Baumhaus. Das war doch was für die Gäng. Zindy war sofort Feuer und Flamme und studierte minutenlang die Bilder.
Es sah eigentlich recht einfach aus. Gerade mal zwei Seiten genügten anscheinend um es zu veranschaulichen und dabei stand noch Text dabei. Zindy fand den völlig unnötig. Die Bilder zeigten doch alles, was man wissen musste. Sogar das zum Bauen benötigte Material war aufgeführt.
Im Kopf des kleinen Stoff-Orang-Utans formte sich sofort ein Plan. Zuerst einem Baum suchen, Dann sich in Papa Daniels Garagenwerkstatt nach dem Material umsehen und drittens mit dem Bau loslegen. Was der durchschnittliche Zeitschriftenleser konnte, konnte sie schon lange. Sie prägte sich nochmals den Bauplan ein und hüpfte dann elegant aufs Fensterbrett.
So wie jetzt hatte sie den Garten noch nie betrachtet. Es gab die Terrasse, das Gartenhaus, den kleinen Pool und Blumen-, Kräuter- und Gemüsebeete. Sie aber brauchte einen Baum. Zindy ließ ihren Blick von links nach rechts schweifen und entdeckte dabei zu ihrer eigenen Überraschung sogar drei Bäume, Einen Kirschbaum, einen Apfelbaum und ein Ahorn.
Der Apfelbaum erschien ihr zu schwächlich, der Ahorn für die anderen zu hoch, aber der Kirschbaum war perfekt. Er hatte einen soliden Stamm und stand jetzt im Mai in voller Blüte und das sah wunderschön aus. Wahrscheinlich fühlte man sich zwischen den unzähligen Blüten wie in einem kuschelweichen weiß-rosa Bett.
Einen guten Platz in dem Baum hatte Zindy auch schon ausgemacht. In knapp zwei Metern Höhe gabelte sich der Stamm in drei dicke Äste. Dort konnte sie eine Plattform errichten, auf der das Baumhaus stehen konnte. Für sie war der Weg dorthin kein Problem, aber was Gerome, Malaika und Ranger anging, würden sich die Drei ganz schön plagen müssen. Und Bruno, der Bär, würde es niemals schaffen. Bei dem würde ihnen gar nichts anderes übrig bleiben als dass sie ihm einen Strick um seinen Bauch banden und ihn dann alle zusammen hochzogen.
Aber mit diesem Problem konnte sie sich später befassen. Jetzt hatte sie wichtigeres zu tun. Sie brauchte Baumaterial.
Als sie die Garage, in der sich Papa Daniels Heimwerkerecke befand, erreichte, schlief Raupe Ranger friedlich zwischen zwei Paar Arbeitshandschuhen in einem gelben Bauarbeiterhelm. Der Bauch des Stofftiers hob und senkte sich gleichmäßig und an und zu schmatzte Ranger auch im Schlaf. Zindy kicherte und sah sich dann weiter um. Mit Unterstützung durch die Raupe hatte sie ohnehin nicht gerechnet.
Schnell entdeckte sie, was sie brauchte: Bretter, Nägel, einen Hammer und dazu eine Schnur um alles nach oben zu ziehen.
Die Schnur war auch ganz schnell zum Kirschbaum geschafft. Die Schachtel mit den Nägeln bereitete ihr schon deutlich größere Schwierigkeiten. Erst bewegte sie sich gar nicht und dann fiel sie mit einem lauten Knall vom Regalbrett auf den Arbeitstisch. Der Deckel sprang auf und elf drei vierzehn Nägel kullerten über den Tisch. Zindy schaffte es alle einzusammeln bevor der erste vom Tisch rollte. Ranger bekam davon nichts mit. Die Raupe schlief selig weiter. Die gesamte Schachtel mit den Nägeln erschien ihr daraufhin doch etwas zu viel und so hüpfte sie mit jeweils zwei Zindyhänden voller Nägel mehrmals zwischen Garage und Baum hin und her.
Dann ging es an die Bretter und hier kam der kleine Stoff-Orang-Utan wirklich an seine Grenzen. Sie hatte sich schon das mit Abstand kleinste Brett herausgesucht, doch selbst dem war sie nicht gewachsen. Es bewegte sich keinen Millimeter. Zindy war untröstlich und schniefte zweimal. Ihr schönes Baumhaus!
Doch dann streifte ihr Blick Papa Daniels Lumpeneimer. Darin befanden sich allerlei in die Jahre gekommen Handtücher, kleine Stoffreste, zerrissene T-Shirts und abgewetzte Kissenbezüge, die Papa Daniel zum Abdecken oder Abwischen benutzte. Ganz oben lag eines von Mama Kathrins Halstüchern. Erst neulich hatte sie es aussortiert, weil es inzwischen arg verblast war und ihr das Muster obendrein nicht mehr gefiel.
Zindy sah es und schüttelte den Kopf. Wie konnte jemand ein rosa Tuch mit knallgelben Bananen und quietschgrünen Äpfeln nicht gefallen, zumal da Kisha und Daniel es ihr vor ein paar Jahren zum Muttertag geschenkt hatten? Zindy wusste sofort, wozu man es brauchen konnte und setzte ihre Idee auch gleich um.
Sie packte einen Zipfel des Tuchs und zog es hinter sich her aus der Garage über den Rasen bis hin zum Kirschbaum. Vom Boden aus wanderte es den Stamm entlang nach oben. An der Stelle, wo sich der Stamm gabelte, hielt sie kurz inne bis sie zwei stabil wirkende Äste entdeckte, die genau den richtigen Abstand zu einander hatten. An jedem Ast wurden zwei Enden des Tuchs festgeknotet und dann ließ sie sich in die Orang-Utan-Früchtetraum-Hängematte fallen.
Mann, war die gemütlich.
Und sooo schön.
Zindy schaukelte hin und her und hin und her. Das mit dem Baumhaus war vielleicht etwas schwieriger als sie gedacht hatte und wenn sie es recht bedachte, war der Esszimmertisch der Knirpse als Gängtreff doch nicht so schlecht. Zumindest für den Anfang.
Inzwischen würde sie hier noch ein wenig schaukeln und nachdenken und eventuell auch aus Versehen ein klitzekleines Nickerchen halten.