Zindy wartet aufs Christkind
Es war Dezember geworden und plötzlich war da diese eigenartige Stimmung im Hause Knirps. Alle wirkten aufgeregt. Alle taten geheimnisvoll, fast als ob sie auf irgendetwas warten würden. Und alle waren sehr geschäftig.
Kishas Mutter schmückte Treppenhaus, Flur und Wohnzimmer mit Girlanden aus Tannenzweigen, Schleifen, Kugeln und kleinen goldenen Engeln. Die Blumentöpfe auf den Fensterbrettern wurden enger zusammengestellt, damit Nussknacker, Rentiere und Schneemänner Platz fanden. Draußen kämpfte Kishas Vater mit der Außenbeleuchtung. Wie jedes Jahr fluchte er leise während er das Knäuel entwirrte, das sich in drei Lichterketten verwandeln würde. Und aus der Küche der kleinen Einliegerwohnung, in der Oma Charlotte wohnte, zogen himmlische Düfte durch das ganze Haus. Es roch nach Vanillekipferl und Spekulatius, nach Zimtsternen und Lebkuchen – einfach lecker!
Sogar Kishas jüngerer Bruder Niklas, mit sechzehn Jahren im besten Schwester-Nerv-Alter, war netter als sonst. Er nannte es sein „Weihnachtsgeschenk“.
Weihnachten. Zindy konnte mit dem Wort zuerst gar nichts anfangen. Was kein Wunder war, denn schließlich war dies ihr erstes Weihnachten. Aber ganz allmählich erschloss sich ihr dieses ominöse Weihnachten.
Jedes Jahr feiern die Menschen dieses Weihnachten. Die Christen sagen, daß an diesem Tag ihr Erlöser geboren wurde. Man sitzt zusammen. Es gibt viel leckeres Essen und - wie Zindy inzwischen herausgefunden hatte - auch Geschenke für jeden, aber ganz besonders für die Kinder. Und damit das richtig klappt, gibt es die Sache mit dem Christkind.
Anderswo auf der Welt kommen vielleicht lustige Kobolde oder der Weihnachtsmann – wahlweise mit oder ohne Rentierschlitten – vollbepackt zu den Menschen, aber in Bayern bringt das Christkind die Geschenke.
Und damit es auch das Richtige bringt, gibt es einen Trick: Den Wunschzettel.
Rechtzeitig setzten sich deshalb in jedem Dorf und jeder Stadt die Kinder an den Tisch und schrieben, malten und bastelten an ihren Briefen ans Christkind. Das fertige Kunstwerk wurde dann kurz vor dem Schlafengehen auf das Fensterbrett gelegt. Noch schnell das Fenster gekippt und am nächsten Morgen war der Wunschzettel verschwunden. Denn mitten in der Nacht, wenn alle Kinder friedlich schliefen, kam das Christkind draußen vorbeigeflogen und sammelte all die Wunschzettel ein. Natürlich bekam man nicht immer alles, was man aufgeschrieben hatte, aber meistens lag am Heiligen Abend eine ganze Menge davon unterm Weihnachtsbaum.
Zindy wusste nicht so recht, was sie von der Geschichte um das Christkind halten sollte. Ein fliegender Engel? Der Geschenke bringt? Für Kinder? Für Erwachsene? Für Stofftiere?
Im Fernsehen hatte sie in einer Diskussionsrunde gehört, daß das ein Märchen sei. Ein von sich selbst sehr überzeugter Psychologe hatte den anderen erklärt, daß man Kindern ruhig die Wahrheit sagen konnte. Die Geschenke stammten von den Eltern und Großeltern und dieses Getue um Christkind und Weihnachtsmann schade nur der Entwicklung des Kindes.
Auch Zindy fand es etwas sonderbar. Ein Engel, der so vielen Kindern zur selben Zeit Geschenke bringen konnte, musste wahnsinnig schnell und stinkreich sein.
Als aber sogar der sonst so coole Niklas einen eilig hingeschmierten Zettel aufs Fensterbrett legte wurde Zindy nachdenklich.
„Damit Oma Charlotte zufrieden ist“, hatte er gemurmelt und sich wieder in sein Zimmer verzogen. Natürlich war auch dieser Zettel am nächsten Morgen weg gewesen.
Vielleicht war ja doch was dran an diesen Wunschzetteln.
Zindy hätte nämlich schon ein paar Wünsche. Sechzehn vier dreiunddreißig um genau zu sein. Aber kam das Christkind auch zu Stoffaffen? Schließlich beschloss Zindy es einfach zu versuchen.
In einem unbeobachteten Moment blätterte sie sich durch die Werbeprospekte auf dem Wohnzimmertisch. Darin fand sie genau das, was sie suchte. So gut wie sie es eben konnte riss Zindy zwei größere Schnipsel aus den Prospekten. Darauf waren genau ihre Wünsche abgebildet. Einen Schal, denn manchmal war es Zindy etwas kalt, und Bananen. Okay, auf den Zetteln war noch etwas mehr, aber das Christkind würde schon wissen, daß sie keinen Glasreiniger brauchte. Sorgfältig platzierte sie die beiden Schnipsel auf dem Fensterbrett direkt neben Kishas Bonsai. Dann legte sie sich auf die Lauer. Denn wenn es das Christkind wirklich gab und es auch an Stofftiere dachte, dann wollte sie es auch sehen.
Alles war perfekt. Kisha war schon Schlafen gegangen. Zindy hörte sie aus dem Schlafzimmer gleichmäßig atmen. Das Fenster war gekippt und von der Straße warf eine Laterne etwas Licht auf ihre Wunschzettel.
Zindy lag bäuchlings auf der Rückenlehne des Sofas und hatte dadurch alles genau im Blick.
Doch nichts geschah.
Ihre Augenlider wurden schwer und immer schwerer. Ihr Kopf sackte langsam nach vorne und plumpste dann aufs Sofa.
Zindy fuhr erschrocken hoch. Das Fenster, der Zettel – nein, sie hatte nichts verpasst.
Zindy, du musst wachbleiben! Sie hüpfte die Sofalehne entlang, schlug einen Purzelbaum und schlenkerte etwas mit den Armen. Nochmal würde ihr das nicht passieren. Vielleicht half ihr ja ein Lied.
„Bananen – ach, was sind die lecker“, begann sie zu singen. „Lecker, lecker, lehecker schmecker.“ Wieder wurden ihre Augen müder und müder. Zur zweiten Strophe kam sie gar nicht mehr. Ganz langsam döste sie weg und dann sah sie ihn, diesen wunderschönen Fruchtsalatbaum. Sie brauchte die Arme nur ein klein wenig zu strecken und schon würde sie die ersten Früchte erreichen. Seine Zweige bogen sich unter dem Gewicht von Orangen, Bananen, Trauben und Wassermelonen. Natürlich wusste Zindy, daß davon eigentlich nur Orangen wirklich an Bäumen wuchsen, aber die Vorstellung war einfach zu lecker. Außerdem war im Traum alles erlaubt.
Im Traum?
Zindy war mit einem Schlag hellwach. Doch es nutzte ihr nichts mehr. Das Fenster war geschlossen und ihre beiden Wunschzettel waren weg.
Es wurden für Zindy noch ein paar lange Tage voller Zweifel und Hoffen bis zum 24. Dezember.
Traditionell wurde an diesem Tag früh zu Abend gegessen. Allen anderen schien es gut zu schmecken. Nur Zindy knabberte lustlos an einem Bananenplätzchen. Sonst konnte sie davon nicht genug kriegen. Aber heute war sie so aufgeregt, daß sie davon keinen Bissen runterbekam. Gleich würde Bescherung sein.
Papa Daniel ging ins Wohnzimmer hinüber. Bald darauf hörte man ein Glöckchen.
Das erste, was Zindy sah, war ein großer Tannenbaum. Rote und silberne Kugeln hingen an seinen Zweigen. Es gab Strohsterne und Engel und die brennenden Kerzen hüllten alles in ein weiches Licht. Und unter dem Baum lagen Päckchen.
Ein großes Päckchen für Papa Daniel. Ein paar für Mama Kathrin und Oma Charlotte. Ihr Mensch Kisha bekam auch mehrere und Niklas die meisten.
„Hey, da ist ja auch eines für Zindy“, hörte sie Kisha sagen.
Mama Kathrin verdrehte die Augen, sagte aber nichts. Schließlich war Weihnachten.
Ein Päckchen für sie? Zindy kippte fast vom Sofa.
Kisha öffnete das kleine Päckchen. Sorgfältig zusammengelegt lag darin ein handgestrickter Wollschal.
„Ist der nicht affenstark?“ Kisha zwinkerte Oma Charlotte zu. Dann legte sie dem kleinen Stoff-Orang-Utan ganz vorsichtig den Schal um.
Da wusste Zindy es. Das Christkind gab es wirklich. Wer sonst konnte ihren Wunschzettel vom Fensterbrett geholt haben?
Vom Rest des Abends bekam Zindy nicht viel mit. Viel zu sehr war sie mit ihrem Geschenk beschäftigt. Grün und grau war der Schal und kuschelig weich.
Als alle anderen längst ins Bett gegangen waren nahm sich Zindy noch ein Bananenplätzchen. Dann setzte sie sich mit ihrem neuen Schal auf einen der unteren Zweige des Tannenbaums und schaukelte noch eine ganze Weile hin und her.
Lies gleich weiter: "Zindy möchte auch einen Nachnamen haben"