Zindy und der erste Schnee
Und dann passierte etwas, das Zindy noch nie gesehen hatte. Einfach so. Ohne sich vorher anzukündigen. Gebannt stand der kleine Stoff-Orang-Utan bestimmt fünf Minuten regungslos an Kishas Wohnzimmerfenster und sah hinaus. Was war denn das?
Kleine weiße Flocken fielen langsam vom Himmel. Manche schwebten sanft zu Boden. Wieder andere tanzten kurz durch die Luft ehe sie ebenfalls im Garten landeten. Zuerst fiel es im Gras kaum auf, doch bald wirkte es wie von einer Puderzuckerschicht überzogen. Die Flocken wurden größer und dichter und hüllten alles in ein weißes Kleid. Ja, es schneite. Eigentlich nichts Ungewöhnliches für einen 6. Dezember. Es sei denn man war ein Stoffaffe und hatte noch nie Schnee gesehen.
Aufgeregt hüpfte Zindy vom Wohnzimmer in die Küche, von dort zurück und ins Schlafzimmer und schließlich ins Bad und überall bot sich ihr derselbe Anblick. In Küche und Wohnzimmer schneite es in den Garten, im Schlafzimmer auf das Nebenhaus und im Bad auf den Vorgarten und die Straße. Egal aus welchen Fenster sie auch sah fiel der Schnee friedlich und still auf die Erde. Vom Regen war Zindy ganz anderes gewohnt. Der trommelte laut gegen die Fensterscheiben und erschreckte Gerome. Wenn sie aber nicht gerade jetzt aus dem Fenster im Wohnzimmer gesehen hätte, hätte sie gar nicht mitbekommen, daß es draußen schneite. So lautlos ging das Ganze von statten.
Lautlos? Ein plötzliches Geräusch aus dem Bad ließ Zindy aufhorchen. So schnell sie konnte schwang sie ins Bad und sah sich um. Auf den ersten Blick schien alles wie immer. Dann entdeckte sie eine Schneeflocke so groß wie Kishas Faust, die von außen an der Fensterscheibe klebte. Wie in Zeitlupe rutschte sie daran herunter. Nur wie kam die dahin?
Zindy kletterte aufs Fensterbrett und sah nach draußen. Das Haus der Familie Knirps stand in einer ruhigen Wohngegend. Demzufolge war auf der Straße vor dem Haus eher weniger Verkehr. Abgesehen von Post, Müllabfuhr und gelegentlich mal einem Handwerker traf man über den Tag verteilt normalerweise nur ein paar Anwohner. Hauptsächlich waren das Erwachsene auf dem Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen, Kinder auf dem Weg zur Schule, zum Sport oder zum Spielplatz und einige wenige Spaziergänger.
Im Augenblick aber war dort unten einiges los. Die Straße war zum Tummelplatz von Vätern und Kindern geworden und beide wirkten glücklich.
Die Väter konnten endlich ihre neu erworbenen Schneeschippen präsentieren und dem Nachbarn zeigen, was so ein Gerät in der Hand des richtigen Mannes in kürzester Zeit zu leisten vermochte. Hofeinfahrten und Gehwege wurden quasi um die Wette vom Schnee befreit, wobei der fortwährende Schneefall die Erfolge bald wieder zunichtemachte. Dazwischen und eigentlich überall waren die Kinder. Zindy war gar nicht bewusst gewesen, wie viele Kinder in der Straße lebten. Sie versuchte sie zu zählen, aber bei dreiunddreißig vier achtzehn gab sie auf.
Da gab es ein paar Kinder, die ihren Vätern beim Schippen halfen. Andere, vor allem jüngere saßen auf etwas, das Zindy von Kishas Winterdekoration auf der Kommode im Wohnzimmer kannte. Das, was sie für einen seltsam geformten Hocker gehalten hatte, hieß wohl Schlitten. Man konnte damit einen Berg herunter fahren – was hier im Haus sehr schwierig war – oder sich von anderen über den Schnee ziehen lassen. Zindy hatte ihn bisher nur als Sitzplatz für eine Plätzchenpause benutzt. Den Kindern schien es jedenfalls viel Spaß zu machen und Zindy überlegte bereits wie sie nachher Kisha dazu bringen konnte sie mitsamt dem Schlitten nach draußen zu befördern.
Ein weiterer Knall holte sie aus ihren Überlegungen. Mehrere Jugendliche formten kleine Bälle aus Schnee und bewarfen sich damit gegenseitig. Treffer wurden begeistert gefeiert und Fehlwürfe mit hämischem Gelächter quittiert. Ab und zu ging ein Wurf auch so weit daneben, daß er eine Haustüre oder ein Fenster traf, was zu dem Geräusch führt, das Zindy vorhin gehört hatte. Ein Riesenspaß war es allemal. Ein Junge traf besonders gut und Zindy feuerte oben vom Badezimmerfenster aus jeden Schneeball mit und kicherte mit jedem ihrer gemeinsamen Treffer. Es war aber auch kein Wunder, daß er so gut traf. Sein Schal hatte die gleichen Farben wie ihrer, grün und grau.
Ihr Schal? Wo war der eigentlich? Der kleine Stoff-Orang-Utan war sich sicher, daß er ihn heute schon gesehen hatte. Nur wo? Zindy turnte vom Bad ins Schlafzimmer, dann ins Wohnzimmer und sie sah sich dabei überall um. Lange brauchte sie nicht zu suchen. Der Schal gehörte aktuell zu Kishas Dekoration. Sie hatte ihn einfach einem hölzernen Tannenbaum angezogen. Kurzerhand schnappte sich Zindy ihren Schal. Sie wickelte sich ihn um den Hals. Dann setzte sie sich auf den Dekoschlitten und wartete geduldig auf Kishas Rückkehr.
Die war ziemlich erstaunt als sie das kleine Stoff-Orang-Utan-Mädchen ausgehfertig auf dem Schlitten vorfand. „Du willst doch bei dem Schneegestöber nicht etwa raus?“ fragte Kisha verdutzt. Ihr hingen jetzt noch ein paar Schneeflocken im Haar. Andererseits konnte es nicht schaden, den kleinen Weg zu Oma Charlottes Haustüre noch einmal frei zu schippen. Kurzentschlossen stellte sie ihre Einkäufe auf den Wohnzimmertisch. Eine der beiden Taschen fiel um und allerlei Bastelmaterial ergoss sich über Tisch, Sofa und den Boden. „Lass gut sein, Gerome! Das räumen wir später weg.“ Sie winkte dem Stoffschaf zu, schnappte sich Zindy samt Schlitten sowie ihr Handy und stürmte nach unten. „Vor dem Schneeräumen bei Oma machen wir noch ein paar coole Fotos für Nina“, erklärte sie Zindy. „Die hat Stress in der Arbeit und braucht dringend eine Aufheiterung.“
Draußen schneite es noch immer auch wenn der Schneefall allmählich nachließ. Kisha stellte den kleinen Schlitten neben die Haustüre, setzte Zindy darauf und rückte ihr den Schal zurecht.
„Gleich geht es los!“ Sie stupste Zindy auf die Nase. „Du wirst sehen, das wird cool.“
Zindy war zu allem bereit. Aufgeregt wartete sie unter dem schützenden Vordach auf Kisha, die in die Garage verschwunden war. Ein, zwei Schneeflocken verirrten sich auf ihren Bauch sowie ihren dritten linken Zeh. Erstaunt stellte sie fest, daß die Flocken dort nicht nur weiß, sondern auch nass und kalt waren. Sie versuchte mit den Schalenden ihren Bauch zu bedecken und gleichzeitig ihre Zehen einzuziehen, beides mit mäßigem Erfolg.
Inzwischen war Kisha mit einer Schneeschippe aus der Garage zurückgekehrt. Binnen weniger Minuten hatte sie damit einen respektablen Schneehaufen zusammengetragen. Der wurde anschließend festgeklopft und glattgestrichen und dann erkannte es auch Zindy. Kisha hatte ihr einen Schlittenberg gebaut.
Kisha verfrachtete den Stoff-Orang-Utan samt Schlitten auf die Spitze. „Zindy fährt Schlitten. Erster Versuch“, sagte sie und gab dem Schlitten einen Schubs. Der bewegte sich brav ein paar Zentimeter und blieb dann wieder stehen.
Es wurde noch mehrmals nachgeklopft und nachgestrichen bis Kisha mit dem Ergebnis zufrieden war und Zindys Rennschlitten fast einen Meter schaffte. Das Handyvideo für Nina war dann nur noch reine Formsache. Einmal von vorne und einmal von der Seite und schon war es abgedreht.
Zindy war froh darüber. Von der rasanten Fahrt konnte sie zwar später vor Gerome prahlen. Aber es waren noch mehrere Schneeflocken auf ihr gelandet und jede war noch nasser und kälter als die davor. Außerdem war sie beim letzten Mal fast vom Schlitten gekippt und dann wäre sie wahrscheinlich direkt erfroren.
So aber trug Kisha sie kurz nach oben ins gut geheizte Wohnzimmer auf ihr Sofakissen um danach endlich den Weg zu Oma Charlottes Wohnung frei zu räumen.
„Wie war es? Wie war es?“ fragte Gerome mit großen Augen und hauchte ihr die Zehen trocken. „Gefährlich? Lebensgefährlich? Oder …? “ Und jetzt flüsterte er. „Megastofftierfabriktodesgefährlich?“
Zindy schmeichelte sein Interesse. Sie ließ daher kein Detail aus. Weder wie sie drei andere Schlitten zugleich überholt hatte noch wie sie die gefürchtete Kurve 7 gemeistert hatte. Gerome hing an ihren Lippen und fuhr jeden Zentimeter der gut fünfhundert Meter langen Strecke mit.
Vielleicht hatte sie doch ein klein bisschen zu sehr übertrieben, dachte Zindy als ihr wieder warm und trocken war. Ihr Blick schweifte über das immer noch überall herumliegende Bastelmaterial. Darunter hatte sie etwas entdeckt, womit sie Gerome bestimmt eine Freude machen konnte. Eine der aufgeplatzten Tüten hatte einmal vierundvierzig zwei dreizehn fingernagelgroße Wattekugeln enthalten. Die lagen nun zum größten Teil auf dem Sofa.
Sie nahm eine in ihre linke Hand und sah das Schaf frech grinsend an.
Der verstand zuerst nicht.
„Schneeballschlacht“, sagte sie und warf ihm die Kugel vor die Füße.
Jetzt verstand er. Er nahm auch eine, warf sie und traf Zindy mitten auf den Bauch.
„Volltreffer“, kicherte die und fiel wie ein Stein um.
Gerome erschrak fürchterlich. Das hatte er doch nicht gewollt.
Zindy hob rasch den Kopf und zwinkerte ihm zu. “Tut gar nicht weh“, beruhigte sie ihn. „Schau!“
Sie rappelte sich wieder auf und bewaffnete sich mit gleich zwei Wattekugeln. Eine ging daneben, die andere traf Gerome am Ohr.
Der gluckste erleichtert. Das tat wirklich nicht weh.
Und dann bewarfen sich die beiden mit Watteschneeballkugeln bis sie vor Lachen nicht mehr konnten.
Lies gleich weiter: "Zindy findet noch einen Freund"