Zindy muss mehr Ordnung halten
Nein, hier lag es nicht. Sie tapste drei Schritte weiter und blickte nacheinander in eine Blumenvase, einen Teelichthalter und eine auf dem Tisch vergessene Tasse. Und hier lag es auch nicht. Dabei war sie ganz sicher gewesen, es gestern irgendwo auf dem Tisch abgelegt zu haben. Sogar unter einer Packung Taschentücher hatte sie schon nachgesehen. Vergebens. Wohin sie auch sah, konnte sie nirgends ihr cooles Bananenfußkettchen finden. Hätte sie es nur gestern nicht abgelegt. Aber gestern war ihr Wild-durch-die-Wohnung-schwingen-Tag gewesen und jetzt konnte sie sich nur noch daran erinnern, daß sie es vorsorglich von ihrem Fuß gezogen hatte. Beim letzten Mal hatte sie sich nämlich damit in einem Schrankgriff verhakt und wäre fast abgestürzt. Das hatte sie nicht noch einmal riskieren wollen. Nur danach hatte sie es eben vergessen, weil sie so müde gewesen war, und jetzt hatte sie den Salat.
Vielleicht hatte es ja Kisha weggeräumt, denn die war recht ordentlich. Mama Kathrin sagte immer, daß sie das von Oma Charlotte hatte, bei der alles seinen angestammten Platz hatte.
Zindy fand Ordnung eigentlich auch sehr schön, denn dann sah alles immer so hübsch aus. Hübsch und adrett. Nur sie und Ordnung – das war so etwas. Sie versuchte ihre Sachen immer sorgfältig zusammen zu halten. Aber irgendwie lag dann doch immer alles ganz woanders.
Schon damals in der Stofftierfabrik waren Ordnung und der kleine Stoff-Orang-Utan nicht die besten Freunde gewesen. Das Schwein Was-auch-immer hatte hartnäckig versucht seine Stofftiertruppe diesbezüglich auf Vordermann zu bringen, war aber ein um das andere Mal kläglich gescheitert.
„Ordnung“, hatte es gerne rezitiert, „macht das Leben leicht. Wer sie hält, der viel erreicht.“ Dann hatte es sich auf dem Tisch zwischen den Kunststoffboxen aufgebaut und zweimal mit dem Lineal auf die Tischplatte geklopft. „Achtung! Inspektion!“
Augenblicklich hatte rege Betriebsamkeit in den einzelnen Boxen geherrscht. Wer in der falschen Box gelegen hatte, hatte sich noch schnell zu seinen Artgenossen gesellt bevor das Schwein die Reihen abgeschritten war.
Am wenigsten hatte es immer bei den Erdmännchen zu meckern gegeben. Eines neben dem anderen, den Kopf leicht nach rechts gewandt, waren sie stocksteif in Reih und Glied dagestanden. Für Was-auch-immer waren sie ein Traum.
Die meisten anderen waren mehr oder weniger sortiert dabei, wobei selbst bei den Schafen eine relative Ordnung zu finden gewesen war. Hoffnungslos waren eigentlich nur zwei Boxen. Die Faultiere hatten weitergelümmelt wie eben Faultiere lümmelten. Und dann war da noch die Box der Orang-Utans.
Saustall war wohl noch die passendste Beschreibung für das, was Was-auch-immer hier vorfand. Alle Körperteile vom Ohr angefangen über Arme, Bauch und Rücken bis hin zum großen Zeh waren ihm entgegengestreckt worden und häufig auch schon mal ein Hintern.
Wie die anderen Orang-Utans hatte auch Zindy den Rummel um diese Ordnung nicht verstanden. Was hätten sie denn ordnen sollen? Sie hatten doch alle nichts. Okay, irgendwie hatten sich ein Radiergummi und eine Büroklammer in ihre Box verirrt. Heimlich hatte sie beides nach nebenan zu den Elefanten geworfen und ihr unschuldigstes Gesicht aufgesetzt.
„Manche lernen es nie!“ Was-auch-immer war vor der Orang-Utan-Box angekommen und hatte verärgert eine Augenbraue gehoben. „Und wie endet das?“
Wie immer hatten die Eulen einen Flügel gehoben. „Wir wissen es. Wir wissen es.“
Doch dieses Mal hatte das Schwein sie nicht beachtet. „Die meisten von euch werden im Zimmer eines Kindes oder Teenagers landen. Und was passiert, wenn dort nicht aufgeräumt wird? Hm? Hm?“ Es rollte mit den Augen. „Wer weiß es? Richtig. Zuerst werden ein paar Stofftiere entsorgt. Ich sage nur zwei Worte.“ Es schwieg kurz. „Grauer Müllsack.“
Zindy schluckte als sie sich jetzt wieder daran erinnerte. Sie hatte doch nur ihr Fußkettchen verlegt. Das war bestimmt nicht so schlimm. Sie musste jetzt nur systematisch suchen.
Mit dem Tisch war sie schon durch. Dann kam als nächstes wohl das Sofa dran. Sie sah unter ihrer Decke nach und unter dem Sofakissen unter ihrer Decke. Gleich daneben lag Kishas Wohlfühlpulli. Zindy krabbelte beim linken Ärmel rein und beim rechten wieder raus. Sie spähte in jede Sofaritze. Nichts. Selbst Gerome wurde von ihr nicht verschont. Gerome, der ja sowieso und ganz besonders bei Zindy ein Schaf war, hob bereitwillig seinen Po, damit sie darunter nachsehen konnte.
Zindy blickte zur anderen Seite des Wohnzimmers und entdeckte den Fernseher. Hinter dem versteckten sich bekanntlich auch immer Sachen. Sie schwang rasch rüber, aber außer Staubwischen war hier nichts vergessen worden. Sie holte sich einen Nießanfall und ein Paar staubige Füße und schwang weiter zur Kommode.
Auf der Kommode war für gewöhnlich passend zur Jahreszeit dekoriert. Fasching folgte auf Weihnachten und Halloween auf Herbst. Jetzt, da es für Fasching zu spät und für Ostern noch etwas zu früh war, stand dort neben einer Keksdose nur eine kleine Dekoschatztruhe. Bis gerade eben war ihr die nicht aufgefallen, obwohl sie eigentlich recht hübsch aussah.
Sie hob den Deckel hoch und stellte zu ihrem Erstaunen fest, daß die Truhe leer war. Und das, wo man doch so viel hineinlegen konnte. Wenn sie es sich so überlegte, hatte darin wohl ihr gesamter Krimskrams Platz. Gut, wenn sie wüsste, wo der war.
Vielleicht war ja ihr Fußkettchen oder irgendetwas anderes davon in der Keksdose. Zugegeben war das sehr unwahrscheinlich, aber ein Blick in eine Keksdose konnte nie verkehrt sein.
Die Keksdose bot keine Überraschung. Sie enthielt nur Kekse. Der kleine Stoff-Orang-Utan nahm sich einen, verschloss die Dose wieder und sah sich weiter um.
Wie alle Kommoden hatte auch Kishas viel Stauraum. Es gab zwei große Schranktüren und darüber zwei Schubladen. Hinter den Schranktüren befanden sich mehrere Ordner, dazu etwas Geschirr, Gläser und Kerzen. In der rechten Schublade lagen diverse wichtige Dokumente wie Kishas Pass, ihr Fotoapparat samt Zubehör, ein paar Ersatzschlüssel sowie Batterien, Akkus und Ladekabel.
Die linke enthielt das, was Kisha „Alles Mögliche“ nannte. Für Zindy konnte das durchaus auch ein Fußkettchen sein.
Das Orang-Utan-Mädchen wusste genau, wie man so eine Schublade aufbekam, auch wenn es für sie um einiges schwerer zu bewerkstelligen war. Kisha zog einfach daran. Sie jedoch musste den Griff mit beiden Händen packen. Ihre Füße kamen auf die Schranktür darunter. Dann musste sie nur unten fest drücken und gleichzeitig oben mit gestreckten Armen und Oberkörper noch fester ziehen. Zindy drückte und zog und drückte und zog und ganz allmählich öffnete sich die Schublade Zentimeter um Zentimeter und dort fand sie ihren Schal. Ein Pflaster. Eine Speisekarte vom Pizzadienst. Ihr Kissen. Stifte. Büroklammern. Einen schwarzen Handschuh und noch so manch anderes. Nur kein Fußkettchen.
Sie wühlte in der einen Ecke und schaute unter eine Packung Hustenbonbons in der anderen Ecke. Dort fand sie zwar nicht ihr Fußkettchen, dafür aber ein krasscooles Glas in Zindygröße. Oma Charlotte hatte das mit einem Bild von König Ludwig II. bedruckte Schnapsglas vor einiger Zeit Kisha geschenkt. Zindy mochte es sofort. Da Kisha es gerade nicht wirklich zu benutzen schien, beschloss sie es künftig zusammen mit ihren Sachen aufzubewahren. Die Dekotruhe schien ihr der geeignete Platz.
Sie stellte das Schnapsglas auf die Kommode und warf danach Kissen und Schal dazu. Während das Kissen auch brav neben der Truhe landete, fiel der Schal zu Boden.
Rasch schwang Zindy nach unten um ihn zu holen. Sie wollte schon fast wieder nach oben, da ließ sie etwas stutzen. Ganz hinten unter der Kommode lag etwas. Vielleicht ihr Kettchen? Unter Zuhilfenahme eines Kochlöffels aus der Küche angelte sie danach und fand drei vertrocknete Weintrauben.
Ihr Notvorrat. Da war er also hingekommen. Den hatte sie ja völlig vergessen. Anfangs war sich Zindy nämlich nicht sicher gewesen, ob ihr Mensch immer genug Orang-Utan-Essen parat haben würde und so hatte sie hier und da etwas versteckt. Bestimmt würde sie irgendwann auch die Schokolinsen wiederfinden.
Jetzt schaffte sie aber erst einmal den Schal hoch auf die Kommode. Dort kam er mit dem Glas und ihrem Kissen in die Truhe. Sie räumte noch den Kochlöffel zurück in die Küche. Dann kehrte sie zu Gerome aufs Sofa zurück.
„Wo soll ich denn noch suchen?“ fragte sie bedrückt das Schaf. Sie hatte gerade in der Küche einen grauen Müllsack entdeckt und das hatte ihre sonst so gute Stimmung ziemlich gedämpft.
Gerome legte ihr die Hand auf die Schulter. Denk nochmal nach! Woran erinnerst du dich?“
Ja, woran?
Sie hatte am Wohnzimmerfenster gesessen. Draußen war absolut nichts los gewesen. Eine Weile hatte sie sich das angesehen. Langweilig. Langweilig. Langweilig.
Und gegen Langeweile half eines immer und das war Schwingen. Sie hatte zum Aufwärmen fünf Kniebeugen gemacht und schon losschwingen wollen als sie ihr Fußkettchen gesehen hatte.
Vorsicht, Zindy, hatte sie sich gesagt und es abgenommen und über dem Ausgießer von Kishas kleiner Gießkanne gehängt.
Zindy schlug sich an die Stirn. Die Gießkanne.
Mit einem Satz war sie auf der Sofalehne. Die Gießkanne stand brav auf dem Fensterbrett und an ihrem Ausgießer baumelte ein Bananenfußkettchen.
Zindy begann zu strahlen. Hallo Fußkettchen. Ade grauer Müllsack.
Sie hüpfte hoch aufs Fensterbrett und schnappte sich ihr Kettchen. Damit ging es gleich rüber zur Schatztruhe auf der Kommode. Sorgsam legte sie es zu Schal, Kissen und Schnapsglas. Dann betrachtete sie voller Stolz ihre Habseligkeiten und war froh, daß jetzt Ordnung herrschte. Es war sogar noch Platz für mehr.
Sie klappte den Deckel der Truhe zu. Dann winkte sie Gerome auf dem Sofa.
„Und wenn du mal was hast, darfst du es selbstverständlich dazulegen.“